Vorzügliche Hochachtung
ABC
Ich sah mir den Briefumschlag an. Auch der war mit Druckbuchstaben beschrieben.
«London W. C. 1 aufgegeben», sagte Poirot, als ich mich anschickte, die Postmarke und den Stempel genauer zu betrachten. «Und, was halten Sie davon?»
Ich zuckte die Achseln und gab ihm den Brief zurück.
«Wahrscheinlich irgendein Verrückter.»
«Mehr haben Sie mir nicht zu sagen?»
«Nun, kommt Ihnen die Sache nicht auch verrückt vor?»
«Doch, mein Freund, doch, das tut sie.»
Er war ernst geworden. Ich sah ihn erstaunt an.
«Ein Verrückter, mon ami, muss ernst genommen werden. Ein Verrückter ist etwas sehr Gefährliches.»
«Ja, natürlich, das stimmt… Das hatte ich nicht bedacht. Aber ich meine: Klingt dieser Brief nicht eher wie der idiotische Scherz eines Menschen, der einen sitzen hatte?»
«Comment? Einen – was – sitzen?»
«Nichts! Das ist nur so eine Redensart… Einen sitzen haben, bedeutet: betrunken sein.»
«Ach so. Danke, Hastings, für diese Bereicherung meines Wortschatzes!… Ja, es ist möglich, dass nicht mehr dahintersteckt als das.»
«Aber Sie glauben nicht daran?» Ein Ton müder Resignation hatte mich aufhorchen lassen.
Poirot schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts.
«Was haben Sie unternommen?», fragte ich.
«Was kann ich unternehmen? Ich habe Japp den Brief gezeigt, und er war derselben Ansicht wie Sie. Ein blöder Witz, so drückte er sich aus. In Scotland Yard erhalten sie täglich solche Botschaften. Ich bekam auch meinen Teil ab…»
«Aber diese hier scheint Ihnen bedeutungsvoll zu sein?»
«Dieser Brief hat irgendetwas, Hastings, was mir nicht gefallen will», antwortete er langsam.
Er nahm den Brief wieder an sich und legte ihn auf den Schreibtisch zurück.
Gegen meinen Willen berührte mich sein nachdenklicher Ton. «Können Sie denn nicht irgendwelche Schritte unternehmen, wenn Ihnen die Sache ernstlich fragwürdig vorkommt?»
«Der Mann der Tat – wie eh und je! Aber was sollte ich denn tun? Die Distriktspolizei hat den Brief gesehen und nimmt ihn sowenig ernst wie Scotland Yard. Fingerabdrücke sind keine vorhanden. Ergo kann man den Schreiber unmöglich eruieren.»
«Also lassen Sie sich tatsächlich nur durch Ihren Instinkt leiten?»
«Nicht Instinkt, Hastings! Instinkt ist ein Wort, das ich hasse! Nein, mein Wissen, meine Erfahrung sagen mir, dass mit diesem Brief etwas nicht stimmt…»
Er gestikulierte heftig, da ihm die Worte fehlten. Dann schüttelte er wieder den Kopf.
«Vielleicht mache ich einen Berg aus einem Maulwurfshügel. Jedenfalls kann ich jetzt nur abwarten.»
«Der Einundzwanzigste ist am Freitag. Wenn also dann in der Nähe von Andover ein Rieseneinbruch stattgefunden haben sollte…»
«Das wäre eine Erlösung!»
«Eine Erlösung?» Ich starrte ihn an. Der Ausdruck schien mir reichlich falsch gewählt in diesem Zusammenhang.
«Ein Einbruch kann unter Umständen sehr aufregend sein, aber als Erlösung habe ich ihn noch nie empfunden!»
Poirot machte eine abwehrende Handbewegung.
«Sie haben mich missverstanden, mein Lieber. Ich wollte sagen, dass ein Einbruch die Angst vor etwas anderem von meiner Seele nehmen würde.»
«Vor was?»
«Mord», sagte Hercule Poirot kurz.
2
Nicht von Hauptmann Hastings selbst erzählt
Mr. Alexander Bonaparte Cust stand von seinem Stuhl auf und spähte kurzsichtig durch das armselig eingerichtete Zimmer. Sein Rücken schien steif von der verkrampften Haltung, die er eingenommen hatte, und erst als er sich streckte und zu seiner vollen Länge aufrichtete, hätte ein zufälliger Beobachter gemerkt, dass er eigentlich ein groß gewachsener Mann war. Seine gebückte Haltung und sein unsicheres, kurzsichtiges Spähen riefen im ersten Augenblick nämlich den gegenteiligen Eindruck hervor.
Er ging zu einem sehr abgetragenen Mantel, der an der Tür hing, und nahm ein Päckchen billiger Zigaretten und ein paar Streichhölzer aus der Tasche. Dann zündete er sich eine Zigarette an und trat an den Tisch zurück, an dem er gesessen hatte. Dort schlug er einen Fahrplan auf, studierte ihn eingehend und wandte darauf seine Aufmerksamkeit einer maschinengeschriebenen Liste von Namen zu. Mit einem Stift machte er neben einen der ersten Namen ein Kreuz. Es war Donnerstag, der 20. Juni.
3
Im Moment hatten mich die trüben Vorahnungen Poirots bezüglich des Briefes, den er erhalten hatte, sehr beeindruckt; aber ich muss zugeben, dass ich die Sache vergessen hatte, als der Einundzwanzigste kam, und dass sie mir erst wieder einfiel, als Inspektor Japp von Scotland Yard bei uns erschien. Der Inspektor war ein alter Bekannter, und er begrüßte mich sehr herzlich.
«Ja, da soll doch…!», rief er aus. «Ist Captain Hastings also aus der Wildnis von Dingsda heimgekehrt! Das ist ja wie in guten alten Tagen – Sie hier zusammen mit Monsieur Poirot! Sie sehen gut aus, Mann! Ganz zuoberst lichtet es sich ein bisschen, wie? Aber das blüht uns allen. Mir geht es genauso!»
Das gab mir einen leisen Stich. Ich hatte mir eingebildet, dass die Art, wie ich mein Haar sorgfältig über die lichten Stellen meines Kopfes bürstete, die beginnende Glatze vollkommen verberge. Aber Japp war mir gegenüber nie von überwältigendem Takt gewesen, also entschloss ich mich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und zuzugeben, dass wir alle nicht jünger würden.
«Mit Ausnahme von Monsieur Poirot!», stellte Japp fest. «Er gäbe eine prächtige Reklame für Haartonika ab. Sein Schnurrbart gedeiht prächtiger denn je. Aber schließlich tritt er ja in seinen alten Tagen auch mehr ins Licht der Öffentlichkeit denn je. Ist in alle wichtigen Fälle unserer Tage verwickelt. Verbrechen in Zügen, in Flugzeugen, Morde in der höchsten Gesellschaft – er ist da und dort und überall dabei. War noch nie so gesucht und berühmt wie seit seinem Rücktritt!»
«Ich habe Hastings bereits gestanden, dass ich wie eine Primadonna immer noch ein letztes Mal erscheine», sagte Poirot lachend.
«Mich würde es gar nicht wundern, wenn Sie einmal sogar Ihren eigenen Tod kriminalistisch untersuchten», grinste Japp.
«Sie, das wäre eine Idee! Darüber müsste jemand ein Buch schreiben!»
Poirot zwinkerte mir zu. «Das könnte Hastings übernehmen.»
Ich begriff nicht, was daran so amüsant sein sollte, und fand den Spaß überhaupt nicht sonderlich geschmackvoll. Witze über das mögliche Ableben eines Menschen, noch dazu eines Anwesenden, kamen mir ganz und gar nicht lustig vor.
Vielleicht stand mir dieses Empfinden auf dem Gesicht geschrieben, denn Japp wechselte plötzlich das Thema.
«Haben Sie schon von Monsieur Poirots anonymem Brief gehört?», fragte er mich.
«Ja, ich habe ihn Hastings neulich zu lesen gegeben», antwortete Poirot für mich.
«Ja, richtig!», rief ich aus. «Das hatte ich total vergessen! War da nicht ein bestimmtes Datum genannt…?»
«Doch, der Einundzwanzigste», sagte Japp. «Das war also gestern, und ich habe noch spät abends mit Andover telefoniert. Das Ganze war also doch ein dummer Scherz. Nichts ist passiert! Kinder haben eine Schaufensterscheibe eingeschlagen, und ein paar Betrunkene haben sich renitent benommen. Diesmal hat sich unser belgischer Freund richtiggehend ins Bockshorn jagen lassen!»