Wir kamen mit etwas Verspätung an. Ein Polizist hatte uns am Bahnhof erwartet und die Situation eingehend geschildert. Sir Carmichael Clarke hatte anscheinend die Gewohnheit gehabt, nach dem Abendessen noch einen Spaziergang zu machen. Als die Polizei – im Rahmen ihrer Warnaktion angerufen hatte, das heißt etwas nach elf Uhr abends, war er noch nicht zurück gewesen. Da er jedoch fast immer den gleichen Rundgang zu machen pflegte, dauerte es nicht lange, bis man seinen Leichnam fand. Todesursache war ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf, ausgeführt mit einem schweren Gegenstand. Ein offener ABC-Fahrplan lag, Rücken nach oben, auf dem toten Körper.
Wir erreichten Haus Combside – so hatte Sir Carmichael Clarke sein Besitztum genannt – um ungefähr acht Uhr. Ein ältlicher Butler, dessen verstörtes Aussehen und zitternde Hände von der schmerzlichen Erregung sprachen, in welche die Tragödie ihn versetzt hatte, öffnete uns die Eingangstür.
«Guten Morgen, Deveril», begrüßte ihn der Polizist.
«Guten Morgen, Mr. Wells.»
«Das sind die Herren aus London, Deveril.»
«Wollen Sie mir bitte folgen.» Der Butler führte uns in ein Speisezimmer, in dem der Frühstückstisch gedeckt war. «Ich werde sofort Mr. Franklin anrufen.»
Wenige Augenblicke später betrat ein großer, blonder Mann mit sonnenverbranntem Gesicht das Zimmer.
Es war Franklin Clarke, der Bruder des Verstorbenen. Sein sicheres Auftreten ließ darauf schließen, dass er schwierige und unvorhergesehene Situationen zu meistern verstand.
«Guten Morgen, meine Herren.»
Wells stellte uns vor.
«Inspektor Crome von Scotland Yard… Monsieur Hercule Poirot und – hm – Captain Hayter…»
«Hastings», verbesserte ich ihn kühl.
Franklin Clarke gab jedem von uns die Hand, wobei er allen forschend, fast stechend in die Augen sah.
«Darf ich Ihnen vielleicht ein Frühstück anbieten?», fragte er höflich. «Wir können die Sachlage ja auch beim Essen besprechen.»
Niemand erhob Einspruch, und wir ließen denn auch bald ausgezeichnetem Schinken mit Ei und ebenso gutem Kaffee volle Gerechtigkeit widerfahren.
«Und nun zur Sache», begann Franklin Clarke. «Mr. Wells hat mir in kurzen Zügen mitgeteilt, was gestern Nacht geschehen ist, und ich muss sagen, dass mir seine Schilderungen wie eine Räuberpistole vorkamen. Soll ich wirklich glauben, Inspektor Crome, dass mein armer Bruder das Opfer eines Wahnsinnigen geworden ist, dass der Mord bereits das dritte Verbrechen dieses Menschen darstellt und dass bei jedem Leichnam ein ABC-Fahrplan gelegen hat?»
«So ist es, Mr. Clarke.»
«Aber weshalb?! Welcher praktische Vorteil kann denn irgendjemandem aus einem solchen Verbrechen erwachsen? Selbst bei einer noch so entgleisten Vorstellungsgabe?»
Poirot nickte beifällig.
«Sie bringen die Sache gleich auf den Punkt, Mr. Clarke», sagte er.
«Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ziemlich sinnlos, über die Motive nachzudenken, Mr. Clarke», warf Inspektor Crome ein. «Das ist eher Aufgabe eines Psychiaters – obwohl ich mir anmaße, selber allerhand Erfahrung mit krimineller Geistesgestörtheit und den damit zusammenhängenden Motiven für eine Untat zu haben. Meist handelt es sich ganz einfach darum, dass ein Mensch sich bestätigen will, dass er auffallen möchte, kurz: dass er jemand zu sein versucht, anstatt ein Niemand zu bleiben.»
«Stimmt das, Monsieur Poirot?»
Clarke schien zu zweifeln. Dass er sich an den älteren Mann wandte, rief bei Inspektor Crome ein unwilliges Stirnrunzeln hervor.
«Ja, das stimmt», antwortete mein Freund.
«Nun, dieser Irre kann jedenfalls der Entdeckung nicht lange entgehen», murmelte Clarke nachdenklich.
«Vouz croyez? Oh, Verrückte sind schlau! Und dann dürfen Sie nicht vergessen, dass ein solcher Mörder äußerlich absolut normal und unauffällig aussehen kann, dass er eben zu jener Sorte Mensch gehört, die man im Allgemeinen übersieht, nicht beachtet oder manchmal sogar auslacht.»
«Würden Sie mir jetzt die Tatsachen berichten, Mr. Clarke?», schnitt Crome diese Unterhaltung ab.
«Natürlich, gern.»
«Ihr Bruder war gestern gesund und so normal wie immer, nicht wahr? Erhielt er unerwartete Briefe? Hat er sich über irgendetwas aufgeregt?»
«Nein. Er war, soviel ich feststellen konnte, wie immer.»
«Also weder aufgeregt noch bekümmert?»
«Verzeihung, Inspektor, das habe ich nicht gesagt. Aufgeregt und bekümmert war mein armer Bruder tagaus, tagein.»
«Ach? Und weshalb?»
«Sie müssen wissen, dass es meiner Schwägerin, Lady Clarke, gesundheitlich sehr schlecht geht. Nur zu Ihnen gesagt: Sie hat Krebs – unheilbar – und wird nicht mehr lange leben. Ihre Krankheit hat meinen Bruder zutiefst erschüttert. Ich selber kam erst vor kurzem aus Ostasien heim und war entsetzt über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war.»
Hier warf Poirot eine Frage ein.
«Angenommen, Mr. Clarke, dass man Ihren Bruder erschossen aufgefunden hätte – vielleicht mit einem Revolver neben sich, was wäre dann Ihr erster Gedanke gewesen?»
«Offen gestanden hätte ich in diesem Fall sofort angenommen, dass es sich um Selbstmord handeln müsse.»
«Schon wieder!», sagte Poirot.
«Wie meinen Sie?»
«Eine Tatsache wiederholt sich. Nicht weiter wichtig.»
«Es war aber kein Selbstmord», stellte Crome eine Spur gereizt fest. «Man hat mir gesagt, dass Ihr Bruder jeden Abend einen Spaziergang unternahm.»
«Jawohl, das stimmt.»
«Jeden Abend?»
«Nun, wenn es Schusterjungen regnete, natürlich nicht.»
«Und jedermann im Hause wusste von dieser Gewohnheit?»
«Selbstverständlich.»
«Und Außenstehende?»
«Was verstehen Sie unter ‹Außenstehende›? Dem Gärtner könnte es natürlich auch bekannt gewesen sein, aber das weiß ich nicht.»
«Und die Leute im Dorf?»
«Wir haben hier genau genommen gar kein Dorf. Es gibt ein Postbüro und eine Reihe von Wohnhäusern in Churston Ferrers, aber ein richtiges Dorf mit Geschäften besteht gar nicht.»
«Ich nehme an, dass man einen Fremden, der sich in der Gegend herumgetrieben hätte, unweigerlich bemerkt haben würde?»
«Ganz im Gegenteil. Im August wimmelt es in dieser Gegend nur so von Fremden. Von Brixham, Torquay und Paignton kommen sie in Autos, Omnibussen und zu Fuß. Broadsands, das liegt dort unten, ist ein sehr beliebter Badestrand und Elbury Cove ebenfalls. Und überallhin kommt das Volk, um zu schwimmen und zu picknicken. Mir wäre es lieber, es käme nicht! Sie können sich nicht vorstellen, wie still und friedlich diese Landschaft im Juni und Juli ist.»
«Sie glauben also, ein Fremder wäre nicht aufgefallen?»
«Nein. Es sei denn, dass er irgendwie anormal ausgesehen hätte.»
«Dieser Mann sieht keineswegs anormal aus», stellte Inspektor Crome dezidiert fest. «Ich sehe die Sache so: Der Mörder muss sich wiederholt hier herumgetrieben haben und dabei darauf gekommen sein, dass Ihr Bruder jeden Abend spazieren ging. Da fällt mir ein: Es ist nicht zufällig gestern Abend ein unbekannter Mann da gewesen, der nach Sir Carmichael Clarke gefragt hat?»
«Vielleicht weiß Deveril Bescheid, aber mir ist nichts dergleichen bekannt.»
Er klingelte, und der Butler trat sofort ein.
«Nein, Sir, es hat niemand nach Sir Carmichael gefragt. Und mir ist auch kein Unbekannter aufgefallen, der sich in der Nähe des Hauses herumgetrieben hätte. Übrigens auch den Hausmädchen nicht, ich habe sie danach gefragt.»