Nicht von Hauptmann Hastings selbst erzählt
Mr. Alexander Bonaparte Cust verließ mit einem Schwarm anderer Zuschauer das Kino von Torquay, wo er eben den Film Not a Sparrow gesehen hatte.
Er blinzelte ein wenig, als er in den Nachmittagssonnenschein hinaustrat, und spähte mit dem verlorenen, traurigen Hundeblick um sich, der so charakteristisch für ihn war.
«Das ist eine Idee…», sagte er leise zu sich selber.
Zeitungsverkäufer rannten schreiend durch die Straße.
«Letzte Nachrichten!… Mordbesessener Wahnsinniger in Churston…!»
Sie trugen kleine Plakate mit sich, auf denen groß geschrieben stand: «Mord in Churston! Letzte Meldungen!»
Mr. Cust suchte in seinen Taschen nach Kleingeld und kaufte sich eine Zeitung, aber er öffnete sie nicht sofort.
Im Princess-Park ging er langsam bis zu einem Gartenhaus, das dem Hafen von Torquay gegenüberlag. Dort setzte er sich nieder und entfaltete die Zeitung.
Große Schlagzeilen.
Sir Carmichael Clarke ermordet.
Entsetzliche Tragödie in Churston.
Das Werk eines mordlüsternen Verrückten.
Und darunter stand:
Vor kaum einem Monat versetzte der Mord an einem jungen Mädchen, Elizabeth Barnard aus Bexhill, ganz England in Schrecken und Erstaunen. Es sei hier daran erinnert, dass ein ABC-Fahrplan in jenem Fall eine Rolle spielte. Ein Exemplar dieses Kursbuches wurde nunmehr auch beim Leichnam von Sir Carmichael Clarke gefunden, was der Polizei Anlass zu der Vermutung gibt, dass beide Verbrechen von ein und derselben Person begangen worden sind. Kann es wirklich möglich sein, dass ein irrsinniger Mörder unsere Badeorte unsicher macht…?
Ein junger Mann in Flanellhosen und blauem Polohemd, der neben Mr. Cust saß, bemerkte: «Scheußliche Geschichte, wie?»
Mr. Cust fuhr zusammen.
«Wie?… Oh, sehr, sehr… scheußlich, gewiss.»
Dem jungen Mann fiel auf, dass die Hände seines Nachbarn so zitterten, dass er kaum das Zeitungsblatt halten konnte.
«Bei Verrückten kann man nie wissen», fuhr der junge Mann fort, um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen, «weil sie nämlich gar nicht immer verrückt aussehen, wissen Sie. Manchmal kommen sie einem genauso normal vor wie Sie und ich…»
«Ja, das kann schon sein», stimmte ihm Mr. Cust bei.
«Das ist sogar sicher. Viele sind durch den Krieg ein wenig durcheinander geraten. Nicht mehr richtig im Oberstübchen seither.»
«Das… das ist wahr.»
«Ich schätze Kriege überhaupt nicht», stellte der junge Mann fest.
Mr. Cust wandte sich ihm zu.
«Ich schätze die Pest, die Schlafkrankheit, die Hungersnöte und Krebs auch nicht, und dennoch gibt es diese Dinge immer wieder!»
«Schon, aber Kriege wären vermeidbar», behauptete der junge Mann.
Mr. Cust lachte. Er lachte eine ganze Weile.
Der junge Mann begann sich unbehaglich zu fühlen.
Der scheint ja auch nicht ganz richtig zu sein, dachte er.
«Entschuldigen Sie», sagt er laut, «waren Sie vielleicht ebenfalls im Krieg?»
«Das war ich, jawohl. Und das hat mich – ein wenig umgeworfen. Mein Kopf ist seither nicht mehr ganz in Ordnung. Kopfweh, dauernd Kopfweh, wissen Sie. – Schreckliche Schmerzen.»
«Ach! Das tut mir Leid», antwortete der junge Mann verlegen.
«Manchmal weiß ich kaum, was ich tue…»
«Nein?… Ja, jetzt muss ich aber gehen.» Der junge Mann erhob sich eilig. Er wusste, wohin das führte, wenn Leute erst einmal anfingen, über ihre Gesundheit zu sprechen.
Mr. Cust blieb mit seiner Zeitung zurück.
Er las sie, las sie immer wieder…
Vor ihm gingen Leute hin und her. Die meisten sprachen über den Mord.
«Grauenvoll… Glauben Sie, dass es mit dem Chinesen zusammenhängen kann? War das Mädchen nicht in einem chinesischen Restaurant angestellt?»
«Gerade beim Golfplatz…»
«Ich habe sagen hören, am Strand unten…»
«… und wir haben erst gestern in Elbury Tee getrunken!»
«… Polizei ihn bestimmt fassen wird…»
«… gehört, er könne jeden Augenblick verhaftet werden…»
«Er muss in Torquay sein! Weil doch die andere Frau, diese – was war sie gleich? –, die er auch ermordet hat…»
Mr. Cust faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf die Bank. Dann erhob er sich und schlenderte durch den Park zurück in die Stadt. Junge Mädchen liefen an ihm vorüber, junge Mädchen in Weiß, Rosa und Blau, Mädchen in Sommerkleidern, Strandanzügen und Shorts, die den Männern, denen sie begegneten, verführerische Blicke zuwarfen.
Mr. Cust beachteten sie überhaupt nicht…
Er setzte sich vor einem kleinen Café nieder und bestellte Tee und Schlagrahm…
17
Mit dem Mord an Sir Carmichael Clarke war der ABC-Fall ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt.
Die Zeitungen berichteten kaum noch von etwas anderem. Alle möglichen Vermutungen wurden als Tatsachen wiedergegeben, Verhaftungen als unmittelbar bevorstehend gemeldet. Von jedem Menschen oder Ort, der auch nur im Entferntesten mit den Morden in Zusammenhang gebracht werden konnte, erschienen riesige Fotografien in den Tagesblättern. Interviews mit jedermann, der gewillt war, ein Interview zu geben, wurden gedruckt. In der Fragestunde des Parlaments wurden die Morde erörtert.
Das Verbrechen von Andover war nun unlöslich mit den beiden anderen Untaten verbunden.
Scotland Yard war der Ansicht, dass diese ungeheure Publizität das geeignetste Mittel sei, den Mörder zu fassen. Die ganze Bevölkerung Großbritanniens verwandelte sich in eine Armee von Privatdetektiven.
Der Daily Flicker – eine weit verbreitete Tageszeitung – hatte das geniale Schlagwort geprägt: «Vielleicht ist er in Ihrer Stadt!»
Für Poirot war das alles natürlich denkbar unangenehm. Die an ihn gerichteten Briefe von ABC wurden im Faksimile überall abgedruckt. Er wurde angegriffen, und man warf ihm vor, diese Morde nicht verhindert zu haben; andere Blätter nahmen ihn in Schutz und versicherten, dass er demnächst den Namen des Täters bekannt geben werde.
Reporter bestürmten ihn dauernd um Interviews.
«Monsieur Poirot sagte heute:…», unter welcher Überschritt gewöhnlich eine halbe Spalte haltlosen Blödsinns erschien.
«Monsieur Poirot beurteilt die Lage sehr ernst.»
«Monsieur Poirot am Vorabend eines Erfolges.»
«Captain Hastings, der beste Freund von Monsieur Poirot, erklärte heute unserem Sonderkorrespondenten…»
«Poirot», pflegte ich in solchen Fällen aufzustöhnen, «bitte glauben Sie mir, dass ich niemals etwas Derartiges gesagt habe!»
Und mein Freund antwortete jedes Mal gelassen:
«Ich weiß, Hastings, ich weiß… Zwischen dem gesprochenen und dem gedruckten Wort klafft ein erstaunlicher Abgrund. Es gibt eine Technik, Sätze zu verdrehen, die den Sinn vollkommen auf den Kopf stellt.»
«Ich möchte nur nicht, dass Sie denken…»
«Lassen Sie nur, mein Guter, regen Sie sich nicht auf. Das ist doch alles ganz unwichtig. Und selbst diese Dummheiten könnten uns nützlich sein.»
«Wie um alles in der Welt?»
«Eh bien», sagte Poirot grimmig, «wenn unser Verrückter liest, was ich angeblich dem Daily Soundso berichtet habe, dann wird er bald allen Respekt vor mir verlieren und mich als Gegner nicht mehr für voll nehmen.»
Vielleicht gewinnt man aus meinen Schilderungen den Eindruck, als wären damals die Untersuchungen praktisch eingestellt worden. Ganz im Gegenteil! Scotland Yard und die Ortspolizeien waren unermüdlich an der Arbeit und verfolgten selbst die nichts sagendsten Hinweise mit bewunderungswürdiger Gewissenhaftigkeit. Hotels, Fremdenzimmer, Pensionen – alles wurde in einem weiten Umkreis der Tatorte eingehend durchstöbert und alle damit zusammenhängenden Personen verhört.