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«N-nein… nein, nach Cheltenham.»

«Auch ganz hübsch. Aber doch nicht so schön wie die Badeorte Torquay zum Beispiel. Dort möchte ich in meinen nächsten Ferien einmal hin. Übrigens müssen Sie ja ganz in der Nähe des Mörders gewesen sein – dieses ABC. Das Verbrechen ist doch gerade damals passiert, als Sie dort waren, nicht wahr?»

«J-ja, gewiss, aber Churston ist doch sechs, sieben Meilen entfernt.»

«Trotzdem! Das ist ja direkt aufregend! Vielleicht sind Sie auf der Straße an dem Mörder vorbeigegangen! Vielleicht standen Sie dicht neben ihm!»

«Ja, das könnte freilich sein», sagte Mr. Cust mit einem so verzerrten, geisterhaften Lächeln, dass Lily Marbury erschrak.

«Mr. Cust, Sie sehen schlecht aus.»

«Aber nein, ich fühle mich sehr wohl. Auf Wiedersehen, Miss Marbury.»

Er zog umständlich seinen Hut vor ihr, ergriff dann wieder seinen Koffer und hastete auf die Tür zu.

«Armer, alter Narr», murmelte Lily Marbury mitleidig. «Meiner Ansicht nach ist der Mann nicht mehr ganz richtig im Kopf.»

Inspektor Crome befahl seinem Untergebenen: «Stellen Sie mir eine Liste von allen Strumpffabrikanten zusammen und lassen Sie sie zirkulieren. Ich brauche eine Aufstellung aller Verkäufer, Reisenden, Hausierer, die für diese Firmen auf Tour gehen.»

«Für den ABC-Fall, Sir?»

«Ja. Eine Idee von Hercule Poirot.» Das klang ziemlich abschätzig. «Wahrscheinlich wird nichts dabei herauskommen, aber wir dürfen keine Spur vernachlässigen, auch wenn sie noch so vage ist.»

«Jawohl, Sir. Monsieur Poirot hat ja seinerzeit wirklich gut gearbeitet, aber jetzt vertrottelt er vermutlich ein bisschen.»

«Er ist ein Scharlatan! Ein Poseur! Das imponiert gewissen Leuten. Mir ganz bestimmt nicht! Ja, wegen der Vorkehrungen in Doncaster…»

Tom Hartigan sagte lachend zu Lily Marbury:

«Ich habe euern alten Einspänner gesehen – heute Morgen.»

«Wen? Mr. Cust?»

«Jawohl, Cust. In Euston. Sah mal wieder aus wie ein verirrtes Huhn. Ich glaube, der Bursche ist nicht ganz normal. Man sollte ihn ein wenig beobachten. Zuerst ließ er seine Zeitung fallen und dann seine Fahrkarte. Ich hob sie auf – er hatte nicht einmal bemerkt, dass er sie nicht mehr in der Hand hielt! Dankte mir übertrieben herzlich, aber erkannt hat er mich bestimmt nicht.»

«Nun, er hat dich ja auch nur ein-, zweimal durch den Korridor gehen sehen.»

Sie tanzten einmal um das ganze Parkett.

«Du tanzt wundervoll», schmeichelte Tom.

«Ach, hör doch auf!» Aber Lily schmiegte sich noch etwas dichter an ihn. Wieder tanzten sie um den ganzen Saal.

«Hast du vorhin Euston gesagt – oder Paddington?», fragte Lily plötzlich. «Wo du den alten Cust gesehen hast?»

«Euston.»

«Ganz sicher?»

«Klar bin ich sicher.»

«Komisch. Nach Cheltenham fährt man doch ab Paddington.»

«Natürlich, aber der alte Cust fuhr nicht nach Cheltenham, sondern nach Doncaster. Das weiß ich genau, mein Mädchen, weil ich ja seine Fahrkarte vom Boden aufhob!»

«Aber mir hat er doch gesagt, er fahre nach Cheltenham…»

«Ach, da hast du ihn falsch verstanden. Er ist nach Doncaster gefahren, darauf kannst du Gift nehmen. Es gibt eben Leute, die Schwein haben! Ich habe ein paar Penny auf Firefly gesetzt und hätte den Gaul gern rennen gesehen!»

«Ich glaube nicht, dass Mr. Cust Rennen besucht. Er sieht nicht danach aus. Hoffentlich wird er nicht ermordet, Tom! In Doncaster soll doch der nächste ABC-Mord stattfinden!»

«Cust wird es nicht treffen, sein Name beginnt ja nicht mit einem D.»

«Neulich hätte es ihm aber glatt passieren können! Er war ganz in der Nähe von Churston, als der letzte Mord verübt wurde.»

«Tatsächlich? Ein komischer Zufall, wie?»

Tom lachte.

«War er vielleicht auch in Bexhill, als dort gemordet wurde?»

Lily runzelte die Stirn. «Er war fort… Ja, ich weiß, dass er fort war, weil er seinen Badeanzug vergessen hatte. Mutter stopfte ihn gerade und sagte: ‹Da haben wir es, jetzt ist Mr. Cust doch ohne seinen Badeanzug weggefahren›, und ich fauchte sie an: Ach, lass doch diesen blöden Badeanzug, in Bexhill ist ein grauenvoller Mord passiert – ein junges Mädchen ist erwürgt worden!›»

«Ja, wenn er aber seinen Badeanzug mitnehmen wollte, dann muss er doch ans Meer gefahren sein!… Du, Lily –» Er grinste spitzbübisch. «Was gibst du mir, wenn sich herausstellt, dass euer alter Einspänner der Mörder ist?»

«Mr. Cust? Der kann doch keiner Fliege etwas zu Leide tun!»

Sie tanzten – allein dem Gefühl hingegeben, beisammen und glücklich zu sein. In ihrem Unterbewusstsein jedoch hatte sich etwas festgekrallt und bohrte weiter… 

23

Doncaster!

Ich glaube, ich werde mich an diesen 11. September mein ganzes Leben lang erinnern!

Tatsächlich ruft noch heute die bloße Erwähnung des St.-Leger-Rennens den Gedanken an Mord in mir wach.

Wenn ich meine damaligen Gefühle zu rekonstruieren versuche, dann war das hervorstechendste das einer jämmerlichen Unzulänglichkeit. Da waren wir nun alle am Tatort versammelt – Poirot, ich selber, Clarke, Fraser, Megan Barnard, Thora Grey und Mary Drower – und was konnten wir im Grunde genommen eigentlich ausrichten?

Wir hegten alle jene gänzlich ungewisse Hoffnung, in einer Menge, die nach Tausenden zählte, ein Gesicht oder eine Gestalt wieder zu erkennen, die wir vor zwei oder drei Monaten vielleicht einmal kurz und verschwommen gesehen hatten.

Nein – die Chancen standen noch weit ungünstiger! Die einzige Person, die den Mörder tatsächlich gesehen hatte und demzufolge auch erkennen konnte, war Thora Grey. Ihre vollendete, damenhafte Haltung brach unter der fortgesetzten Spannung langsam zusammen. Sie war nicht mehr ruhig und überlegen, sondern saß mit verkrampften Händen, fast weinend da und beschwor Poirot, flehte ihn an, ihr zu glauben:

«Ich habe ihn wirklich nicht angesehen! Hätte ich es nur getan! Ich war ja so dumm! Jetzt verlassen Sie sich auf mich… alle hängen von mir ab, und ich werde Sie bestimmt enttäuschen! Weil ich ihn, sogar wenn ich ihn tatsächlich Wiedersehen sollte, bestimmt nicht mehr erkennen werde. Ich habe ein schlechtes Personengedächtnis!»

Was immer er mir über das Mädchen gesagt hatte, wie scharf er es kritisierte, wenn wir allein waren, jetzt war Poirot die Güte in Person. Er gab sich weich und verständnisvoll. Ich erkannte, dass auch Poirot weiblicher Schönheit in Verzweiflung nicht teilnahmslos gegenüberzustehen vermochte. Er nahm Thora freundlich bei den Schultern.

«Nun, nun, petite, keine hysterischen Ausbrüche! Das führt zu nichts. Wenn Sie diesen Menschen zu Gesicht bekämen, würden Sie ihn wieder erkennen!»

«Wieso glauben Sie das?»

«Oh, aus vielen Gründen. Einmal, weil auf Schwarz immer Rot folgen muss.»

«Was soll das heißen, Poirot?», fragte ich.

«Spielerjargon! Beim Roulett kann lange Zeit dauernd Schwarz kommen, aber schließlich muss die Kugel bei Rot stehen bleiben. Das mathematische Gesetz des Glücksspiels.»

«Sie glauben also, das Glück werde nun wechseln?»

«Richtig, Hastings. Und an diesem Punkt mangelt es dem Spieler – (und unserem Mörder, der ja schließlich auch eine Art Glücksspiel betreibt, bei dem er nicht sein Geld, sondern sein Leben einsetzt) – meistens an Intelligenz und Weitsicht. Weil er gewonnen hat, bildet er sich ein, er werde fortfahren zu gewinnen! Er verlässt den Tisch nicht zur rechten Zeit, solange seine Taschen voll sind. Im Falle unserer Verbrechen: Ein Mörder, der so lange erfolgreich vorging, kann sich gar nicht vorstellen, dass er plötzlich Misserfolg haben könnte! Er schreibt sein fehlerloses Vorgehen ausschließlich sich selbst zu, aber ich sage euch, meine Freunde, dass kein Verbrechen, und sei es noch so bis ins kleinste überlegt, erfolgreich, das heißt unentdeckt durchgeführt werden kann, wenn nicht das Glück auf Seiten des Täters steht.»