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Hier verstummte er.

«Ja?»

«Mir liegt daran, Monsieur Poirot, dass Sie wissen, wie unbegründet das alles ist. Hirngespinste einer kranken Frau, weiter nichts. Bitte, hier –» Er suchte nervös in seinen Taschen herum. «Hier ist ein Brief, den mein Bruder mir nach Malaysia schrieb. Ich möchte, dass Sie ihn lesen, damit Sie genau wissen, wie die Dinge wirklich lagen.»

Poirot nahm das Blatt Papier. Franklin trat neben ihn und las, indem er die Zeilen mit dem Zeigefinger verfolgte, einige Stellen laut vor.

…hier alles seinen gewohnten Gang nimmt. Charlottes Schmerzen sind verhältnismäßig erträglich. Ich wünschte, ich könnte dir besseren Bescheid geben. Erinnerst du dich an Thora Grey? Sie ist ein liebes Mädchen und mir mehr Beistand, als ich dir schildern kann. Ich wüsste nicht, wie ich ohne sie diese schreckliche Zeit überstehen sollte. Ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme sind überwältigend. Sie hat einen untadeligen Geschmack und viel Verständnis für schöne Dinge. Außerdem teilt sie mein Interesse für chinesische Kunst. Es ist wirklich ein großes Glück, dass ich sie gefunden habe. Eine Tochter könnte mir kein besserer und tröstlicherer Kamerad sein. Ihr Leben war kein leichtes und verlief nicht immer glücklich, umso mehr freue ich mich, dass sie hier ein Heim und ehrliche Zuneigung gefunden hat…

«Sehen Sie, so waren die Gefühle meines Bruders für Thora Grey. Er betrachtete sie quasi als seine Tochter. Deshalb empfinde ich es als große Ungerechtigkeit, dass das Mädchen, kaum dass mein Bruder tot war, von dessen Frau aus dem Hause gewiesen wurde! Frauen sind wirklich manchmal Teufel, Monsieur Poirot!»

«Ihre Schwägerin ist sehr krank, und sie leidet, das dürfen Sie nicht vergessen, Mr. Clarke.»

«Ich weiß, ich weiß! Das sage ich mir ja auch dauernd. Man darf nicht zu hart über sie urteilen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich Ihnen das zeigen sollte. Ich möchte nicht, dass Sie nach den Aussagen meiner Schwägerin eine schlechte Meinung von Thora bekommen.»

Poirot gab ihm den Brief zurück.

«Ich kann Ihnen versichern», sagte er lächelnd, «dass ich mir niemals und von niemandem Meinungen einreden lasse. Die bilde ich mir immer selber – nach meinen eigenen Beobachtungen.»

«So oder so – ich bin froh, dass Sie das gelesen haben.» Clarke steckte den Brief wieder weg.

«Und da sind auch schon die Mädchen! Also können wir abmarschieren.»

Auf der Schwelle rief Poirot mich zurück.

«Sind Sie entschlossen, die Expedition mitzumachen, Hastings?»

«Ja. Ich könnte ein untätiges Dasitzen nicht ertragen.»

«Es gibt eine Tätigkeit des Geistes, mon ami.»

«Die liegt Ihnen besser als mir.»

«Damit haben Sie ganz unzweifelhaft Recht, Hastings. Ist meine Annahme richtig, dass Sie eine der Damen begleiten wollen?»

«So war es abgemacht.»

«Und welche der Damen werden Sie mit Ihren Beschützertalenten beglücken?»

«Das – hm – darüber habe ich noch nicht nachgedacht.»

«Was sagen Sie zu Miss Barnard?»

«Nun, sie ist eine eher unabhängige Natur», wich ich aus.

«Und Miss Grey?»

«Ja – vielleicht – ja, eher.»

«Ich entdecke an Ihnen eine eigentümliche, wenn auch absolut durchsichtige Unehrlichkeit, Hastings! Sie sind seit langem entschlossen, diesen Tag mit Ihrem blonden Engel zu verbringen!»

«Poirot! Ich muss doch bitten…»

«Es tut mir leid, Ihre Pläne zu durchkreuzen, aber ich muss Sie bitten, jemand anders zu eskortieren.»

«Bitte! Bitte sehr! Mir scheint, dass Sie eine Schwäche für diese Holländerpuppe von einem Mädchen gefasst haben!»

«Sie werden Mary Drower begleiten, Hastings, und ich bitte Sie, das Mädchen nicht aus den Augen zu lassen!»

«Aber warum denn, Poirot?»

«Weil ihr Name mit einem D beginnt, mein Freund, und weil wir keine Risiken eingehen dürfen!»

Diese Überlegung war gerechtfertigt, das sah ich ein. Im ersten Augenblick mutete sie vielleicht etwas weit hergeholt an; aber dann machte ich mir klar, dass ABC, der Poirot leidenschaftlich zu hassen schien, sich sehr wohl über jede Bewegung seines Gegners informiert haben konnte. Und in diesem Fall konnte ihm die Ausschaltung Mary Drowers als ein besonders boshafter vierter Streich vorschweben.

Ich gelobte, meinen Beschützerpflichten getreulich nachzukommen.

Als ich das Zimmer verließ, saß Poirot beim Fenster. Vor ihm auf dem Tisch stand ein kleines Roulett. Er setzte die Kugel in kreisende Bewegung. Ich wollte eben die Tür hinter mir ins Schloss ziehen, als er mir nachrief:

«Rouge! Das ist ein gutes Omen, Hastings! Das Glück hat sich gewendet!» 

24

Nicht von Hauptmann Hastings selbst erzählt

Mr. Leadbitter brummte ungeduldig etwas wenig Schmeichelhaftes, als sein Nachbar aufstand und sich ungeschickt an ihm vorbeizwängte, wobei er außerdem noch seinen Hut in die vordere Sitzreihe fallen ließ und sich mühsam vornüberneigte, um ihn wieder aufzuheben. Und das just im entscheidenden Augenblick des Films Not a Sparrow, dieses erhebenden Streifens mit der grandiosen Starbesetzung, auf dessen Besuch Mr. Leadbitter sich seit einer Woche gefreut hatte.

Die goldhaarige Heldin, gespielt von Katherine Royal (nach Mr. Leadbitters Meinung, die führende Filmkünstlerin der Welt), war eben im Begriff, einen heiseren Schrei der Empörung auszustoßen: «Niemals! Ich würde lieber hungers sterben! Aber ich werde nicht verhungern. Denken Sie an die Worte: Nicht ein Sperling fällt – »

Mr. Leadbitters Kopf fuhr unruhig hin und her. Plebs! Warum, zum Teufel, konnten die Leute nicht das Ende des Films abwarten? Und in einem derart herzbewegenden Augenblick aufzustehen!

So – jetzt war es besser. Der störende Herr war endlich vorüber und hinausgegangen. Mr. Leadbitter hatte ungestörte Sicht auf die Leinwand und Katherine Royal, die am Fenster des Van Schreiner’schen Hauses in New York stand. Und jetzt bestieg sie einen Eisenbahnwagen – das Kind hielt sie fest im Arm… Ach, und nun tauchte auch Steve wieder auf – in seinem Blockhaus in den Bergen…

Der Film rollte ab und seinem aufwühlenden und halbreligiösen Schluss entgegen. Mr. Leadbitter atmete seufzend auf, als der Saal hell wurde.

Er erhob sich und blinzelte ein wenig. Es war nicht seine Art, das Kino nach einer Vorstellung schnell zu verlassen, denn er brauchte immer einige Minuten, bis er sich in die prosaische Realität des Alltags zurückfinden konnte.

Er sah sich um. Nicht viele Leute heute Nachmittag – nun ja, begreiflich! Jedermann war auf dem Rennplatz. Mr. Leadbitter war ein Gegner von Rennen, Kartenspielen, Trinken und Rauchen. Um so aufgeschlossener und hingebungsvoller genoss er Filme.

Die Zuschauer hasteten den Ausgängen entgegen. Mr. Leadbitter traf Anstalten, ebenfalls zu gehen. Der Mann im Sitz vor ihm war eingeschlafen und ganz in seinem Sessel zusammengesunken. Mr. Leadbitter empörte sich beim Gedanken daran, dass jemand schlafen konnte, während ein Drama wie Not a Sparrow vor ihm abrollte.

Der erzürnte Mr. Leadbitter fauchte den Mann, dessen Füße in den kleinen Korridor hinausragten und ihm den Weg versperrten, ziemlich barsch an: «Verzeihen Sie!»

Als Mr. Leadbitter bei der Ausgangstür stand, sah er sich um. Eine nervöse Bewegung war da hinter ihm im Gange… Ein Portier… Ein Menschenknäuel… Vielleicht war der Mann da drüben gar nicht eingeschlafen, sondern stockbetrunken…

Mr. Leadbitter zögerte eine Weile, doch dann ging er hinaus – und indem er das tat, ließ er sich die Sensation des Tages entgehen, eine größere Sensation, als es der Sieg von Not Half im St. Leger war, der sich 85 zu 1 bezahlt machte.

Der Portier sagte: «Sie haben wahrscheinlich Recht, Sir. Der Mann ist krank… Was haben Sie, Sir?»

Der andere hatte seine Hand mit einem Aufschrei zurückgezogen und betrachtete nun deren rote, klebrige Färbung.

«Blut…!»

Der Portier unterdrückte einen Fluch. Er hatte etwas Gelbes unter dem Kinositz hervorragen sehen.

«Verflucht und zugenäht! Ein ABC-Fahrplan!», stöhnte er auf.