Mr. Ball vom «Black Swan» war ein breiter, langsam denkender, sich schwerfällig bewegender Mann. Er strömte einen scharfen Biergeruch aus. Neben ihm trat eine dicke, plumpe Frau mit kugelrunden Augen ein, der man ihre Aufregung deutlich anmerkte.
«Hoffentlich störe ich nicht oder nehme Ihre wertvolle Zeit ungebührlich in Anspruch», sagte Mr. Ball mit einer gaumigen Stimme und sehr langsam. «Aber die da, die Mary, die hat Ihnen etwas zu sagen, was Sie wissen müssen.»
Mary kicherte verlegen vor sich hin.
«Also, dann reden Sie nur ruhig», forderte Anderson sie auf. «Wie heißen Sie?»
«Mary, Sir – Mary Stroud.»
«Also, Mary, heraus damit.»
Mary sah ihren Dienstherrn Hilfe suchend an.
«Sie muss das heiße Wasser auf die Zimmer bringen», sprang Mr. Ball in die Bresche. «Wir haben ein halbes Dutzend Logiergäste teils wegen der Rennen, teils einfach Reisende.»
«Ja, ja und?», drängte der ungeduldige Anderson.
«So, jetzt rede du weiter, Mädchen. Erzähl deine Geschichte. Du brauchst keine Angst zu haben.»
Mary holte tief Atem, stöhnte ein wenig und stürzte sich dann in ihre Schilderung.
«Ich klopfte an die Tür, und es antwortete niemand, sonst wäre ich doch erst hineingegangen, wenn der Herr ‹Herein!› gerufen hätte, aber weil niemand rief, bin ich also hinein, und da wusch er sich gerade die Hände.»
Sie hielt inne und schnappte nach Luft.
«Ja – und weiter?»
Mary warf ihrem Chef einen Blick zu und tauchte dann, wie gestärkt durch dessen bedächtiges Nicken, erneut in ihre Erzählung.
«Ich sage zu ihm: ‹Da ist heißes Wasser, Sir, und ich habe geklopft›, und er sagte: ‹Oh, ich habe mich schon mit kaltem Wasser gewaschen›, und da schaute ich natürlich in das Becken und – Gott helfe mir, Sir! – das war ganz rot!»
«Rot?», fragte Anderson scharf.
«Und das hat das Mädchen mir berichtet», fiel hier Ball ein, «und dass er den Mantel ausgezogen hatte und den Ärmel davon festhielt und dass der ganz nass war – das stimmt doch, Mary, nicht wahr?»
«Ja, so war es, Sir, genauso!» Nun hatte sie wieder neue Kraft geschöpft. «Und sein Gesicht, Sir, das sah so komisch aus, unheimlich komisch. Ich bin richtig erschrocken.»
«Und wann hat sich das alles abgespielt?»
«Ungefähr um Viertel nach fünf, soviel ich mich erinnere.»
«Also vor über drei Stunden!», rief Anderson aus. «Warum sind Sie nicht sofort hergekommen?»
«Weil ich es nicht sofort erfahren habe», antwortete Ball gelassen. «Erst als wir von dem neuen Mord hörten, kam das Mädchen gelaufen und schrie, das in der Schüssel könnte doch Blut gewesen sein, und ich fragte sie, was das heißen solle, und da erzählte sie mir alles. Nun, und das kam mir auch verdächtig vor, und so ging ich selber in das Zimmer hinauf. Es war niemand darin. Ich fragte verschiedene Leute, und einer der Burschen im Hof unten sagte, er habe einen Kerl aus dem Haus schleichen und rasch um die Ecke verschwinden sehen, und seiner Beschreibung nach war es der Richtige. Also sagte ich zu meiner Frau, dass Mary am gescheitesten gleich zur Polizei gehen sollte. Und weil Mary das gar nicht gern wollte, sagte ich, ich würde sie begleiten.»
Inspektor Crome nahm ein Notizpapier.
«Beschreiben Sie diesen Mann – schnell! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!»
«Mittelgroß war er», antwortete Mary. «Und er ging gebückt und trug eine Brille.»
«Wie war er gekleidet?»
«Ein dunkler Anzug und ein Filzhut. Alles ziemlich abgetragen.»
Mehr wusste sie dieser Beschreibung nicht hinzuzufügen. Inspektor Crome drang nicht weiter in sie. Bald summten alle Telefondrähte die neuesten Meldungen in die Welt hinaus, aber weder Crome noch der Polizeichef waren sehr zuversichtlich.
Crome bekam noch aus den beiden Zeugen heraus, dass der Mann, der sich verstohlen aus dem Hof schlich, weder einen Koffer noch sonstiges Gepäck bei sich gehabt hatte.
«Vielleicht haben wir wenigstens damit Glück!»
Es wurden zwei Beamte zum «Black Swan» geschickt. Ein vor Stolz und dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit geschwellter Mr. Ball und eine den Tränen nahe Mary begleiteten sie.
Der Polizeisergeant kam nach zehn Minuten zurück.
«Ich habe das Anmeldebuch mitgebracht, Sir. Hier ist die Unterschrift.»
Wir umringten das Buch. Die Schrift war klein und verkrampft ziemlich unleserlich.
«A. B. Case – oder heißt das Cash?» buchstabierte der Colonel.
«ABC», betonte der Inspektor bedeutungsvoll.
«Kein Gepäck?», fragte Anderson.
«Doch, Sir, ein ziemlich großer Koffer – voll von Schachteln.»
«Schachteln? Enthaltend?»
«Strümpfe, Sir. Seidenstrümpfe.»
Crome wandte sich Poirot zu.
«Gratuliere! Ihre Vermutung war richtig!»
28
Nicht von Hauptmann Hastings selbst erzählt
Inspektor Crome saß in seinem Büro in Scotland Yard. Das Telefon auf seinem Schreibtisch summte diskret. Er hob den Hörer ab.
«Hier spricht Jacobs, Sir. Eben ist ein junger Mann gekommen, der eine Geschichte erzählt, die Sie unbedingt hören sollten.»
Inspektor Crome seufzte müde. Durchschnittlich tauchten pro Tag ungefähr zwanzig Personen mit so genannten Informationen betreffend den ABC-Fall auf. Viele von ihnen waren harmlose Fantasten, andere wohlmeinende Bürger, die allen Ernstes davon überzeugt waren, dass ihre Mitteilungen wertvoll seien. Sergeant Jacobs’ Aufgabe war es, als menschliches Sieb zu wirken, das Gröbste auszuscheiden und nur die restlichen Besucher zu seinem Chef vorzulassen.
«Also gut, Jacobs», sagte Crome. «Schicken Sie ihn herein.»
Wenige Minuten später erschien Sergeant Jacobs mit einem großen, einigermaßen gut aussehenden jungen Mann.
«Tom Hartigan, Sir. Er hat uns etwas zu sagen,’ was möglicherweise mit dem ABC-Fall in Zusammenhang stehen könnte.»
Der Inspektor stand auf und gab Tom Hartigan die Hand.
«Guten Morgen, Mr. Hartigan. Bitte, nehmen Sie Platz. Rauchen Sie? Zigarette?»
Tom Hartigan setzte sich ein wenig verlegen und sah fast ehrfürchtig zu dem Mann auf, den er im Geiste ein großes Tier nannte. Zwar enttäuschte ihn die äußere Erscheinung des Inspektors. Der Mann sah ja aus wie jedermann!
«Also?», bahnte Crome das Gespräch an. «Sie haben uns Mitteilungen zu machen, die mit dem Fall zusammenhängen könnten?»
«Es ist natürlich möglich», stammelte Tom nervös, «dass gar nichts daran ist… ich meine… es war nur so eine Idee von mir… Vielleicht stehle ich Ihnen unnütz die Zeit.»
Wieder entfuhr Inspektor Crome ein leiser Seufzer. Wie vielen Menschen hatte er schon versichert, jede Meldung sei möglicherweise von Wichtigkeit!
«Darüber werden wir dann schon entscheiden, Mr. Hartigan. Bitte, erzählen Sie uns jetzt, was Sie wissen.»
«Ja, es war also so: Ich habe eine Freundin, Sir, und die Mutter meiner Freundin vermietet Zimmer. In Camden Town. Im Hinterzimmer des zweiten Stocks wohnt seit über einem Jahr ein Mann namens Cust.»
«Cust?»
«Jawohl, Sir. Ein Mann in mittleren Jahren, immer ein wenig zerstreut und sanft – und dabei ziemlich heruntergekommen, scheint mir. Von der Sorte, die keiner Fliege etwas zu Leide tun kann, wissen Sie, und eigentlich wäre mir dieser Mr. Cust nie besonders aufgefallen – wenn nicht etwas Merkwürdiges passiert wäre.»
Reichlich verworren und mit unzähligen Wiederholungen des bereits Gesagten beschrieb Tom seine Begegnung mit Mr. Cust auf dem Bahnhof Euston und die Sache mit der fallen gelassenen Fahrkarte.
«Man mag darüber denken, wie man will, Sir, aber das ist doch komisch! Lily, das ist meine Freundin, war ganz sicher, dass er nach Cheltenham fahren wollte, und ihre Mutter sagt genau das gleiche, weil sie sich deutlich erinnert, dass Mr. Cust von Cheltenham gesprochen hatte an jenem Morgen. Zuerst habe ich natürlich nicht weiter über diese Sache nachgedacht. Aber als dann Lily, meine Freundin, sagte, hoffentlich werde Mr. Cust nichts passieren, wenn er wirklich nach Doncaster gefahren sei, weil er nämlich auch zufällig in der Nähe von Churston gewesen sei, als dort ein Mord verübt wurde, da fragte ich sie lachend, ob er vielleicht auch noch zufällig in Bexhill war, als die junge Dame erwürgt wurde. Und darauf antwortete mir Lily, das wisse sie nicht, aber er sei damals auch fort gewesen, irgendwo am Meer, das wusste sie noch. Und dann sagte ich, dass es doch zum Schießen komisch wäre, wenn am Ende Mr. Cust dieser ABC wäre, und sie fuhr mich ziemlich an, Mr. Cust könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Und das war alles. Wir dachten nicht mehr daran. Das heißt, irgendwie ging mir die Sache doch nicht mehr aus dem Kopf. Ich begann mir einzureden, dass dieser Mr. Cust, so harmlos er auch aussieht, eigentlich ein bisschen verrückt sei.»