«Nein-n-nein.» Die Frau war hartnäckig. Sein Blick fiel auf die Überschriften der Zeitung, die er in der Hand hielt.
«Geburtstage – Geburten – Hochzeiten – Todesfälle.»
«Meine Schwester hat soeben einen kleinen Buben bekommen», stieß er hervor. Er – der nie eine Schwester gehabt hatte!
«Ach, wie nett! Das ist aber wirklich zu nett!» (Noch nie hat er diese Schwester auch nur erwähnt in all der Zeit, dachte Mrs. Marbury. Das ist wieder einmal typisch für einen Mann!) «Ich war nämlich wirklich erstaunt, als eine Frauenstimme Sie am Telefon verlangte, Mr. Cust. Zuerst dachte ich, es sei meine Lily. Die Stimme klang ganz ähnlich – nur mehr von oben herab, wenn Sie verstehen, was ich meine –, so ein bisschen im Befehlston. Also meine herzlichsten Glückwünsche, Mr. Cust. Ist es das erste, oder haben Sie noch mehr Nichten und Neffen?»
«Es ist das einzige Geschwisterkind», antwortete Mr. Cust, «und wird wohl auch das einzige bleiben, und – hm – ja, jetzt muss ich aber gehen. Sie wollen, dass ich komme. Wenn ich mich beeile, erwische ich grad noch den Zug.»
«Werden Sie lange wegbleiben, Mr. Cust?», rief ihm Mrs. Marbury fragend nach, als er schon die Treppe hinauflief.
«Nein – zwei, drei Tage, länger nicht.»
Plötzlich bedrückte sie ihr Gewissen. Der gestrige Abend, dieses Zurückverfolgen von Daten! Der Versuch, zu beweisen, dass Mr. Cust ein Monster sei, dieser ABC! Nur, weil er zufällig die gleichen Initialen hatte und zufällig ein paar Daten mit den Verbrechen übereinstimmten!
«Ach was, es war den beiden sicher nicht ernst», beruhigte sie sich selber. «Und wahrscheinlich schämen sie sich jetzt schon ihres Verdachts.»
Auf eine seltsame Weise, die sie niemals hätte erklären können, hatte nämlich die Nachricht, dass seine Schwester ein Baby bekommen habe, jegliches Misstrauen aus Mrs. Marburys Seele verscheucht, das dort vielleicht noch gegen ihren Mieter genistet hatte.
Hoffentlich hatte sie es nicht zu schwer, die Arme, dachte Mrs. Marbury, wobei sie ein Bügeleisen an ihrer Wange ausprobierte, ehe sie es auf ein Seidenunterkleid Lilys presste. Und dann gingen ihre Gedanken in rein geburtshilflicher Richtung spazieren.
Mr. Cust kam die Treppe herunter, zum Ausgehen angezogen, Koffer in der Hand. Er sah das Telefon lange an. Das Gespräch von vorhin ging ihm im Kopf herum:
«Sind Sie es, Mr. Cust? Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ein Inspektor von Scotland Yard Sie aufsuchen wird.»
Was hatte er darauf geantwortet? Er konnte sich nicht erinnern. «Danke, danke vielmals, meine Liebe… sehr lieb von Ihnen» oder so etwas Ähnliches.
Warum hatte sie angerufen? Hatte sie etwas erraten? Oder wollte sie nur sicher sein, dass er die Ankunft des Inspektors abwarten würde? Und wie konnte sie von dessen Besuch wissen? Und warum hatte sie vor ihrer Mutter die Stimme verstellt?
Es sah so aus, als ob – als ob sie wüsste…
Aber wenn sie es wusste, dann würde sie doch nicht…
Oder doch, vielleicht doch. Frauen sind seltsame Wesen. Unerwartet grausam und unerwartet weich. Er hatte einmal gesehen, wie Lily eine Maus aus der Falle gelassen hatte.
Ein liebes Mädchen… Ein liebes, hübsches Mädchen…
Er blieb vor dem Garderobenständer mit seiner Last von Mänteln und Regenschirmen stehen.
Sollte er…
Ein Geräusch aus der Küche beschleunigte seinen Entschluss.
Nein, keine Zeit mehr. Mrs. Marbury konnte jeden Augenblick herauskommen.
Er öffnete leise die Eingangstür und glitt hinaus. Dann zog er sie ins Schloss.
Wohin nun…?
29
Wieder eine Konferenz.
Der Commissioner, Crome, Poirot und ich. Der Commissioner sagte eben:
«Ausgezeichnete Anregung, Monsieur Poirot, alle großen Strumpfeinkäufe zu kontrollieren.»
Poirot spreizte die Finger beider Hände.
«Das lag auf der Hand. Dieser Mann kann kein normaler Reisender sein. Er tätigte Verkäufe von Haus zu Haus anstatt Bestellungen aufzunehmen.»
Crome überflog seine Notizen.
«Ich habe mit Churston, Paignton und Torquay Fühlung genommen. Es liegt nun eine Liste von Leuten vor, bei denen er Strümpfe zum Verkauf anbot. Der Mann hat gründlich gearbeitet. In Andover zum Beispiel bot er seine Ware Mrs. Fowler, der Nachbarin von Mrs. Ascher, an und weiteren sechs Frauen in der Straße. Das Paar, das bei Mrs. Ascher gefunden wurde, ist von derselben Marke, die Cust verkauft.»
«Soweit also alles in Ordnung», warf der Commissioner ein.
«Gestützt auf vertrauliche Informationen, die ich erhalten hatte, ging ich in das Haus, das mir Tom Hartigan bezeichnet hat, erfuhr aber, dass Mr. Cust vor etwa einer halben Stunde fortgegangen sei. Er habe einen Anruf bekommen, übrigens zum ersten Mal, seit er bei ihr wohne, erzählte mir seine Wirtin.»
«Ein Komplize?», fragte der Commissioner.
«Kaum», antwortete ihm Poirot. «Seltsam. Es sei denn…»
Aller Augen waren fragend auf ihn gerichtet, als er sich unterbrach. Aber er schüttelte nur den Kopf, und Crome fuhr in seinem Bericht fort.
«Ich habe sein Zimmer gründlich durchsucht. Ein Zweifel ist völlig ausgeschlossen. Erstens fand ich einen Schreibblock mit dem Papier, auf dem die Briefe jeweils geschrieben wurden, zweitens mehrere Dutzend Paar Strümpfe, und drittens – auf dem Gestell, wo er die Strümpfe aufbewahrte – ein Paket, das wie ein Strumpfpaket aussah, aber nicht Strümpfe, sondern – acht neue ABC-Fahrpläne enthielt!»
«Da haben wir ja den Beweis!», rief der Commissioner.
«Ich habe noch etwas gefunden, Sir.» Die Stimme Inspektor Cromes wurde beinahe menschlich im Triumph. «Erst heute früh, so dass ich noch gar nicht darüber rapportieren konnte. Man hatte doch bis dahin das Messer nicht entdeckt…»
«ABC müsste ja auch tatsächlich schwachsinnig sein, wenn er das Mordwerkzeug in sein Zimmer zurückgetragen hätte», fiel Poirot ihm ins Wort.
«Schließlich ist er ja kein normaler Mensch, nicht wahr?», gab Crome hochmütig zurück. «Nun, ich überlegte mir jedenfalls, dass er das Messer zwar vielleicht mit sich genommen hat, zu Hause jedoch – wie Mr. Poirot so richtig bemerkte! – die Gefährlichkeit seines Unterfangens erkannt und nach einem günstigen Versteck gesucht haben könnte. Welches Versteck konnte ihm sicher genug erscheinen? Ich fand es auf Anhieb! Der Garderobenständer! Kein Mensch rückt jemals einen Garderobenständer beiseite. Es brauchte allerhand Anstrengung, bis ich den Ständer von der Wand wegziehen konnte. Und dort lag es!»
«Das Messer?»
«Das Messer. Zweifellos das Mordwerkzeug. Das getrocknete Blut war noch darauf.»
«Gute Arbeit, Crome», lobte der Commissioner.
«Jetzt brauchen wir nur noch eines… den Mann selber!»
«Wir werden ihn erwischen, Sir, verlassen Sie sich darauf.» Der Inspektor strahlte förmlich Zuversicht aus.
«Was meinen Sie, Monsieur Poirot?»
Poirot fuhr aus tiefem Nachdenken auf. «Wie bitte?»
«Wir glauben, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, dass wir unseren Mann fangen. Meinen Sie nicht auch?»
«O gewiss! Ganz ohne Zweifel.»
Das äußerte er so geistesabwesend, dass wir ihn alle verwundert ansahen.
«Bedrückt Sie trotzdem noch etwas, Monsieur Poirot?»
«Ja. Etwas bedrückt mich sogar sehr. Und zwar das Warum! Das Motiv.»
«Aber, mein Bester, der Mann ist geistesgestört!», fuhr ihn der Commissioner fast barsch an.
«Ich verstehe genau, was Monsieur Poirot meint», kam Crome meinem Freund zu Hilfe. «Diesen Untaten muss eine klar erkennbare Besessenheit zu Grunde liegen. Ich persönlich denke, dass wir als Wurzel des Übels ein schweres Minderwertigkeitsgefühl erkennen werden. Vielleicht ist auch Verfolgungswahn dabei, und wenn ja, dann schließt dieser auch Monsieur Poirot mit ein. Der Mörder bildet sich vielleicht ein, dass Monsieur Poirot eigens dazu da sei, ihn zur Strecke zu bringen.»