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«Ja – ehern – ja», brummte der Commissioner. «Das sind so die heutigen Fachausdrücke! Zu meiner Zeit war ein Mensch verrückt, und man suchte keine wissenschaftlichen Erklärungen dafür. Wahrscheinlich würde ein moderner Arzt raten, diesen ABC in ein Sanatorium zu schicken, wo man ihm so lange freundlich klar macht, dass er ein feiner Kerl ist, bis er als wertvolles Glied der menschlichen Gemeinschaft wieder hinausgelassen werden könnte!»

Poirot lächelte, aber er antwortete nichts darauf. Die Konferenz war beendet.

«Also schön», sagte der Commissioner und erhob sich, «dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir ihn haben, Crome.»

«Wir hätten ihn längst gefasst, Sir, wenn er nicht so unauffällig aussehen würde. Es sind schon genug harmlose Bürger zu Unrecht belästigt worden seinetwegen.»

«Ich frage mich, wo der Kerl jetzt gerade sein mag!» 

30

Nicht von Hauptmann Hastings selbst erzählt

Mr. Cust stand vor einem Gemüseladen.

Er betrachtete unverwandt das Haus gegenüber.

Ja, das war es: Mrs. Ascher – Zeitungen und Tabak. Im leeren Fenster klebte ein Plakat… Zu vermieten… Leer… Leblos…

«Entschuldigen Sie!»

Es war die Frau des Gemüsehändlers, die nach einigen Zitronen griff. Er trat beiseite.

Langsam schlurfte er die Gasse hinunter – wieder der Hauptstraße entgegen…

Es war schwierig, sehr schwierig… jetzt, da er kein Geld mehr hatte…

Wenn man einen ganzen Tag lang nichts gegessen hat, dann wird einem ganz merkwürdig, so wirr im Kopf…

Er blieb vor einem Zeitungskiosk stehen.

Der ABC-Fall. Mörder noch immer auf freiem Fuß. Interview mit Hercule Poirot.

«Hercule Poirot… Ich frage mich, ob er weiß…», sagte Mr. Cust laut vor sich hin. Dann ging er wieder weiter. Es war nicht klug, zu lange vor diesen Zeitungen stehen zu bleiben.

Dann dachte er: Ich kann nicht mehr…

Immer einen Fuß vor den anderen setzen… Eigentlich komisch, wie der Mensch sich fortbewegt… Ein Fuß vor den anderen lächerlich. Sehr lächerlich sogar.

Aber der Mensch war eben überhaupt ein komisches Tier…

Und er, Alexander Bonaparte Cust, war ganz besonders komisch… Immer gewesen… Immer hatten die Menschen ihn ausgelacht… Er konnte ihnen das nicht einmal übel nehmen…

Wohin ging er überhaupt? Er wusste es nicht. Er war am Ende angelangt. Jetzt sah er nur noch seinen Füßen zu… Ein Fuß vor den anderen…

Dann blickte er auf. Lichter. Buchstaben dicht vor ihm… Polizeistation.

«Das ist aber drollig», sagte Mr. Cust und musste lachen. Er trat ein. Plötzlich schwankte er und fiel vornüber. 

31

 Es war ein klarer Novembertag. Dr. Thompson und Chefinspektor Japp waren gekommen, um Poirot das Resultat des polizeigerichtlichen Verfahrens gegen Alexander Bonaparte Cust mitzuteilen. Ein leichter Bronchialkatarr hatte Poirot gehindert, den Verhandlungen beizuwohnen.

«Wie sehen Sie die ganze Sache, Doktor?», wandte Poirot sich an Thompson.

«Den Fall Cust? Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich sagen soll. Er spielt den Gesunden bemerkenswert gut. Natürlich ist er Epileptiker.»

«Die Lösung des Knotens war ja erstaunlich!», sagte ich.

«Dass er wie ein Klotz direkt in die Polizeistation Andover hineinfiel? Allerdings, kein Theaterstück hätte dramatischer enden können. ABC wusste ja seine Effekte immer sehr geschickt zu setzen.»

«Ist es möglich, dass man ein Verbrechen begeht, ohne dass man sich dessen bewusst ist?»

Dr. Thompson lächelte ein wenig über meine Frage.

«Nun, sein Leugnen klang doch stellenweise durchaus glaubwürdig!»

«Sie dürfen sich nicht von der theatralischen ‹Ich-schwöre-bei-Gott›-Pose beeindrucken lassen. Meiner Ansicht nach weiß Cust ganz genau, dass er die Morde begangen hat. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen», fuhr Thompson fort, «so ist es absolut möglich, dass ein Epileptiker in einem Zustand von nachtwandlerischer Benommenheit eine Tat verübt, von der er nachher nichts mehr weiß. Aber die Briefe zeigen in diesem Fall, dass Vorbedacht und sorgfältige Planung vorliegen.»

«Und wer diese Briefe geschrieben hat, wissen wir noch immer nicht», sagte Poirot.

«Interessieren Sie sich so sehr dafür?»

«Selbstverständlich! Sie waren schließlich an mich gerichtet! Und gerade im Hinblick auf diese Briefe bleibt Cust beharrlich bei seinem Leugnen. Solange die Herkunft dieser Briefe nicht zwingend und eindeutig geklärt ist, wird der Fall für mich nicht abgeschlossen sein.»

«Ja – diesen Standpunkt kann ich verstehen. Es liegt auch kein Grund vor, weshalb man annehmen sollte, dass Ihnen dieser Mann irgendwann mal im Leben begegnet ist.»

«Genauso denke ich auch.»

«Nun, dafür könnte es eine Erklärung geben. Ihr Name!»

«Mein Name?»

«Ja. Cust ist durch zwei reichlich bombastische Taufnamen belastet – Alexander und Bonaparte. Merken Sie was? Alexander, der unbesiegbare Held, der nach immer neuen Welten lechzte, die er hätte erobern können – und Bonaparte, der große Franzosenkaiser. Nun sucht er nach einem Gegner, nach einem ebenbürtigen Gegner natürlich, und da tauchen Sie auf – Herkules, der Starke.»

«Das alles ist einleuchtend, Doktor, und Ihre Gedanken schreien förmlich nach Weiterungen…»

«Ach, sie sind eine Anregung, sonst nichts. Ja, und jetzt muss ich gehen.»

Dr. Thompson ging. Japp blieb zurück.

«Bedrückt Sie das Alibi?» fragte Poirot.

«Ja, ein wenig schon», gestand der Inspektor. «Wohlgemerkt: Ich glaube nicht daran, weil es einfach nicht wahr sein kann. Aber es wird verteufelt schwer sein, es zu widerlegen. Dieser Strange ist ein hartnäckiger Kerl.»

«Beschreiben Sie ihn mir.»

«Vierzig Jahre alt. Stark, unbeugsam und selbstsicher – ein Mineningenieur. Ich vermute, dass er selber darauf bestanden hat, seine Aussage jetzt zu machen. Er möchte nach Chile abreisen und wollte die Sache noch vorher erledigt wissen.»

«Ich habe selten einen Menschen gesehen, der seiner Sache so sicher war wie er», sagte ich.

«Also jemand, der nicht leicht zugeben würde, dass er sich geirrt haben könnte», folgerte Poirot nachdenklich.

«Er hält stur an seiner Erzählung fest und ist durch nichts zu erschüttern. Er schwört bei seinem Augenlicht, dass er Cust am Abend des 24. Juli im ‹Whitecross› in Eastbourne getroffen hat. Er fühlte sich einsam und suchte nach einem Gesprächspartner. Cust gab anscheinend einen idealen Zuhörer ab, der sein Gegenüber nie unterbrach! Nach dem Abendessen spielten die beiden Domino. Strange behauptet von sich, ein hervorragender Dominospieler zu sein; aber zu seiner großen Verwunderung sei Cust ihm sozusagen ebenbürtig gewesen. Ein komisches Spiel – Domino. Die Leute können wie besessen davon sein. Stundenlang sieht man sie ganz versunken dasitzen. Und genau das haben Strange und Cust auch getan. Cust soll wiederholt verlangt haben, endlich schlafen zu gehen, aber Strange überhörte diesen Wunsch – bis mindestens um Mitternacht, das ist er bereit zu beschwören. Um zehn nach zwölf trennten sie sich dann. Und wenn also Cust um zehn Minuten nach Mitternacht im Hotel in Eastbourne war, dann kann er nicht gut Betty Barnard am Strand von Bexhill zwischen zwölf und ein Uhr erwürgt haben.»

«Das scheint tatsächlich ein unüberwindbares Problem darzustellen», sagte Poirot. «Wirklich, das gibt einem zu denken.»

«Crome jedenfalls verursacht es gehörige Kopfschmerzen», grinste Japp.

«Und dieser Strange ist also seiner Sache ganz sicher?»