«Unumstößlich sicher. Ein starrsinniger Teufel! Und es ist vorläufig nicht zu sehen, wo der Haken sitzen könnte. Angenommen, Strange irrt sich und der Mann ist nicht Cust gewesen – warum, um alles in der Welt, sollte er dann angegeben haben, Cust zu heißen? Und die Handschrift im Gästebuch ist die seinige. Man kann auch nicht voraussetzen, dass er sein Komplize gewesen ist – mordbesessene Wahnsinnige haben keine Komplizen! Starb das Mädchen vielleicht später? Der Arzt machte doch höchst präzise Angaben. Und dann hätte Cust immerhin einige Zeit gebraucht, um ungesehen aus dem Hotel zu entwischen und nach Bexhill hinüberzukommen – vierzehn Meilen entfernt…»
«Ja, es ist wirklich ein Problem», murmelte Poirot.
«Natürlich spielt es im Grunde genommen keine Rolle mehr. Wir haben Cust beim Mord in Doncaster erwischt – der blutbefleckte Mantel, das Messer –, daran gibt es nichts mehr zu rütteln. Nicht ein Geschworenengericht würde ihn daraufhin noch freisprechen. Aber es verdirbt unseren schönen Fall. Er beging den Mord in Doncaster. Er beging den Mord in Churston. Er beging den Mord in Andover. Dann muss er doch, bei allen Teufeln, auch den Mord in Bexhill begangen haben! Aber ich sehe nicht recht, wie!»
Er schüttelte verzweifelt den Kopf und stand auf.
«Jetzt haben Sie Ihre große Chance, Monsieur Poirot! Crome tappt vollkommen im Dunkeln. Lassen Sie nun dieses Zellenarrangement spielen, von dem ich schon soviel gehört habe! Enthüllen Sie uns, wie er diesen vierten Mord doch begangen haben könnte!»
Japp verabschiedete sich.
«Nun, Poirot? Werden die kleinen grauen Zellen Ihrer Aufgabe gewachsen sein?», fragte ich.
Poirot beantwortete meine Frage mit einer Gegenfrage.
«Sagen Sie, Hastings, betrachten Sie den Fall als abgeschlossen?»
«Ja, praktisch schon. Wir haben den Mann. Und wir haben erdrückende Beweise gegen ihn. Fehlen nur noch einzelne Verbindungsglieder.»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Der Fall ist abgeschlossen! Der Fall! Aber der Fall ist der Mann, Hastings! Bevor wir nicht alles über den Mann wissen, ist der Tatbestand unklar wie eh und je. Ihn auf die Anklagebank gesetzt zu haben, bedeutet noch nicht den Sieg!»
«Wir wissen aber doch recht viel von ihm und über ihn.»
«Nichts wissen wir! Wir wissen, wo er geboren wurde. Wir wissen, dass er im Krieg gekämpft hat und dabei eine leichte Kopfverletzung davontrug, die dazu führte, dass er wegen Epilepsie vom Dienst befreit wurde. Wir wissen, dass er seit bald zwei Jahren bei Mrs. Marbury wohnte. Wir wissen, dass er ein stiller, zurückgezogener Mensch war – von der Sorte Mensch, die niemand beachtet. Wir wissen, dass er einen ungemein klugen Mordplan ausdachte und systematisch ausführte. Wir wissen, dass er ein paar unsäglich dumme Fehler machte. Wir wissen, dass er mitleidlos und sehr grausam mordete. Wir wissen auch, dass er weichherzig genug war, niemanden für seine Untaten büßen zu lassen. Wenn er unbehelligt hätte morden wollen – wie leicht hätte er da anderen die Schuld für seine Verbrechen aufbürden können! Merken Sie denn nicht, Hastings, dass dieser Mann aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt zu sein scheint? Dumm und gerissen, grausam und weich – und dass es irgendetwas geben muss, was diese zwei Naturen verbindet?»
«Bitte, wenn Sie ihn natürlich als psychologisches Studienobjekt betrachten…», begann ich.
«Was war denn dieser ganze Fall anderes von Anfang an? Mühsam bin ich vorwärts gekrochen – immer bestrebt, den Mörder kennen zu lernen. Und jetzt, Hastings, sehe ich ein, dass ich überhaupt nichts von ihm weiß! Nichts, gar nichts!»
«Machtgier…»
«Ja, das würde manches erklären… Aber es befriedigt mich nicht. Es gibt so vieles, was mir unklar ist… Warum beging er diese Morde? Warum tötete er gerade diese Menschen?»
«Alphabetischer Komplex…»
«War denn Betty Barnard der einzige Mensch in ganz Bexhill, dessen Namen mit B begann? Betty Barnard… Dabei ist mir doch etwas aufgefallen… Ja, so muss es sein… Das muss ganz einfach stimmen… Aber dann…»
Er versank plötzlich in tiefes Schweigen. Ich wagte nicht, ihn zu stören. Tatsächlich muss es so gewesen sein, dass ich ganz unvermittelt einschlief. Ich erwachte erst, als Poirot mich sanft an der Schulter rüttelte.
«Mon cher Hastings», sagte er fast liebevoll, «mein guter Genius!»
Diese Ehrenerklärung verwirrte mich zutiefst.
«Doch, doch, das sind Sie wirklich», beharrte Poirot. «Immer helfen Sie mir! Immer wieder bringen Sie mir Glück! Sie inspirieren mich!»
«Ach? Und in welcher Hinsicht, wenn ich fragen darf?»
«Während ich mir verschiedene Fragen durch den Kopf gehen ließ, fiel mir eine Bemerkung ein, die Sie gemacht hatten – eine Bemerkung, die vor Klarheit förmlich funkelte. Sagte ich Ihnen nicht schon einmal, dass Sie im Festhalten des Unverkennbaren genial seien? Gerade diese augenfälligen, selbstverständlichen Dinge habe ich vernachlässigt.»
«Und meine brillante Bemerkung lautete wie?»
«Sie macht alles kristallklar. Nun weiß ich die Antwort auf alle meine Fragen. Den Grund für Mrs. Ascher habe ich lange schon geahnt; den für Sir Carmichael Clarke, den für den Doncaster-Mord und schließlich den letzten, wichtigsten, den für Hercule Poirot, machte mir erst Ihre Bemerkung klar.»
«Wollen Sie mir nicht bitte erklären…»
«Im Augenblick nicht. Ich brauche noch einige Auskünfte. Die kann ich von unserer Spezialbrigade bekommen. Und dann wenn ich eine ganz bestimmte Auskunft bekommen habe – dann werde ich ABC gegenübertreten – endlich – von Angesicht zu Angesicht – Hercule Poirot und ABC, die Gegner.»
«Und dann?», fragte ich.
«Und dann werden wir miteinander reden! Je vous assure, Hastings, es gibt für einen Menschen, der etwas zu verheimlichen hat, nichts Gefährlicheres als Konversation! Sprechen, hat mir einmal ein sehr kluger, alter Franzose gesagt, hindert den Menschen am Denken. Ferner stellt es das unfehlbarste Mittel dafür dar, Dinge aus ihm herauszubekommen, die er eigentlich verbergen will. Kein Mensch, Hastings, kann der Versuchung widerstehen, sich in einer Unterhaltung auszudrücken, sich zu erklären. Er wird sich im Gespräch unweigerlich verraten.»
«Was erwarten Sie denn von Cust zu hören?»
Hercule Poirot lächelte.
«Eine Lüge. Und durch sie werde ich die Wahrheit erfahren.»
32
Während der folgenden Tage war Poirot ungemein beschäftigt. Er verschwand des Öfteren sehr geheimnisvoll, redete wenig, ging mit gerunzelter Stirn umher und weigerte sich hartnäckig, mir endlich zu enthüllen, worin meine überwältigende Klarsicht eigentlich bestanden hatte, die ihm so nützlich gewesen war.
Er lud mich auch nicht ein, ihn auf seinen mysteriösen Gängen zu begleiten – eine Tatsache, die mich empfindlich traf.
Gegen Ende der Woche allerdings kündigte er einen Ausflug nach Bexhill an, zu dem er mich einlud. Unnötig zu erwähnen, dass ich begeistert zusagte.
Diese Einladung war übrigens nicht an mich allein ergangen, wie ich bald bemerkte. Die übrigen Angehörigen unserer Spezialgruppe waren auch mit von der Partie.
Poirots Benehmen gab ihnen ebenfalls zu denken. Immerhin glaubte ich am Ende des Tages begreifen zu können, was Poirot mit diesem Ausflug beabsichtigte.
Zuerst suchte er Mr. und Mrs. Barnard auf und ließ sich von ihnen haarklein erzählen, wann Mr. Cust bei ihnen vorgesprochen und was er dabei gesagt hatte. Dann ging er in das Hotel, in dem Cust abgestiegen war, und erfragte die genauen Umstände, unter denen der Herr von dort fortgegangen war. Meiner Ansicht nach kam dabei zwar gar nichts Neues zu Tage, aber Poirot schien von all den Auskünften sehr befriedigt zu sein.