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«Das klingt freilich grausam, aber in Wirklichkeit…»

«Freut sich der Fuchs darüber? Sagen Sie jetzt bloß keine Dummheiten, Hastings! – Tout de même, dieser schnelle, furchtbare Tod ist aber noch besser als das, was die Kinder gesungen haben… Eingesperrt zu sein – für immer eingesperrt… Nein, das ist viel ärger!»

Er schüttelte den Kopf. Dann erklärte er, wieder gefasster: «Morgen werde ich diesen Cust besuchen.» Und dem Chauffeur rief er zu: «Zurück nach London!»

«Fahren wir nicht nach Eastbourne?», rief ich erstaunt.

«Wozu? Ich weiß genug – für meine Zwecke.» 

33

Ich war bei der Unterredung zwischen Poirot und dem seltsamen Mr. Cust nicht zugegen. Aufgrund seiner Beziehungen zur Polizei und der verworrenen Umstände dieses Falles hatte Poirot wohl sofort eine Vollmacht des Ministeriums des Inneren für einen Besuch bei dem Häftling bekommen, aber diese Bewilligung erstreckte sich nicht auf meine Person. Außerdem war Poirot selber dafür, dass diese Unterredung streng vertraulich und nur unter vier Augen stattfinden sollte.

Aber Poirot hat mir nach seinem Besuch einen so eingehenden Bericht über den Verlauf des Gesprächs mit Cust gegeben, dass ich ihn hier niederschreiben kann, als wäre ich persönlich dabei gewesen.

Mr. Cust schien kleiner geworden zu sein. Mehr denn je fiel seine gebückte Haltung auf. Er nestelte unruhig an den Knöpfen seiner Jacke herum.

Poirot schwieg lange Zeit. Er saß nur da und sah sein Gegenüber aufmerksam an. Dadurch entstand eine fast ruhige, gelöste Atmosphäre – eine besänftigende Stille… Dieses Zusammentreffen der beiden Gegner in der Tragödie muss ein dramatischer Augenblick gewesen sein. An Poirots Stelle hätte ich meine Erregung nicht zu unterdrücken vermocht. Aber Poirot ist ein gelassener, nüchterner Mensch. Er wusste genau, was er mit dieser ruhigen Zurückhaltung bezweckte.

Endlich fragte er den Mann liebenswürdig: «Wissen Sie, wer ich bin?»

Der andere schüttelte den Kopf.

«Nein – nein, leider nicht. Vielleicht wurden Sie von Mr. Maynard hergeschickt?»

(Maynard und Cole waren seine offiziellen Verteidiger.)

Mr. Cust sprach in höflichem, wenn auch keineswegs sehr interessiertem Ton. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

«Ich bin Hercule Poirot.»

Das sagte mein Freund ganz beiläufig, beobachtete aber den Effekt, den seine Worte machten, sehr scharf.

Mr. Cust hob den Kopf.

«Ach, wirklich?»

Das äußerte er genauso, wie Inspektor Crome es betont haben könnte, nur ohne dessen Herablassung.

Dann, wenigstens eine Minute später, wiederholte er die beiden Worte. «Ach? Wirklich?» Nur war diesmal eine wache Gespanntheit in seiner Stimme. Er sah Poirot groß an. Hercule Poirot begegnete seinem Blick und nickte dann zweimal.

«Jawohl, ich bin der Mann, dem Sie die Briefe geschrieben haben.»

Das riss nun alle Schranken mit einem Schlag nieder.

Mr. Cust begann plötzlich schnell und fieberhaft zu sprechen.

«Ich habe Ihnen nie geschrieben. Diese Briefe wurden nicht von mir geschrieben. Das habe ich doch wieder und wieder ausgesagt!»

«Ich weiß. Aber wenn Sie sie nicht geschrieben haben, wer hat es dann getan?»

«Ein Feind. Ich muss einen Feind haben. Alle sind gegen mich. Die Polizei – alle – gegen mich. Das Ganze ist eine riesige Verschwörung!»

Poirot antwortete nichts darauf.

«Immer – immer waren alle Leute gegen mich!»

«Schon als Sie noch ein Kind waren?»

Darüber dachte Mr. Cust sekundenlang nach.

«Nein – nein, damals eigentlich nicht. Meine Mutter hat mich sehr gern gehabt. Aber sie war ehrgeizig, schrecklich ehrgeizig. Darum gab sie mir auch diese lächerlichen Namen. Sie bildete sich ein, ich werde einst eine Rolle in der Welt spielen. Immer drängte sie mich, ich solle mich hervortun, mich behaupten, und dann redete sie mir ein, dass jeder sein Schicksal selber meistern könnte… dass ich alles erreichen könnte, was ich will!»

Erschöpft schwieg er eine Weile.

«Aber sie hatte unrecht. Das habe ich selber sehr rasch herausbekommen. Ich war nicht der Mensch, der es weit bringt im Leben. Immer habe ich Dummheiten gemacht, immer war ich eine lächerliche Figur. Und schüchtern war ich, schüchtern und menschenscheu. In der Schule hatte ich es schwer. Die anderen neckten mich wegen meiner Vornamen… Ich habe immer versagt in der Schule, beim Turnen, bei der Arbeit – überall.»

Er schüttelte den Kopf.

«Es ist ein Glück, dass meine arme Mutter starb… Sie wäre so enttäuscht gewesen… Sogar in der Handelsschule war ich schwach. Ich habe doppelt so lange gebraucht wie alle anderen, um Stenografie und Maschinenschreiben zu erlernen. Und dabei, wissen Sie, kam ich mir gar nicht dümmer vor, als die anderen es waren – wenn Sie mich verstehen.»

Er warf Poirot einen flehentlichen Blick zu.

«Ich verstehe Sie sehr gut. Bitte, sprechen Sie weiter.»

«Es war mehr das Gefühl, dass alle anderen mich für blöd hielten, das mich bedrückte und lähmte. Im Büro später war es ganz genauso.»

«Und dann – im Krieg?», fragte Poirot.

Mr. Custs Gesicht hellte sich auf.

«Ich war gern im Krieg, wissen Sie. Soviel ich davon erlebte, heißt das. Da war ich zum ersten Mal ein Mann wie jeder andere. Wir steckten alle im gleichen Schlamassel. Und ich galt ebenso viel wie jeder andere Soldat.»

Sein Lächeln erlosch. «Und dann wurde ich verwundet. Nicht schwer. Aber nachher fanden sie heraus, dass ich Anfälle bekam… Ich hatte natürlich schon lange bemerkt, dass es Zeiten gab, wo ich überhaupt nicht wusste, was ich tat… Absenzen, wissen Sie. Und ein- oder zweimal bin ich auch umgefallen. Aber ich glaube, dass sie mich bloß deswegen nicht hätten beurlauben dürfen. Nein, das war ganz bestimmt nicht recht.»

«Und was geschah dann?»

«Ich fand eine Stelle als Beamter. Natürlich war damals das Stellenangebot groß. Es ging mir gar nicht so schlecht nach dem Krieg, obwohl ich kein großes Gehalt hatte… Aber ich kam einfach nicht an. Bei Beförderungen wurde ich dauernd übergangen, weil ich nicht tüchtig genug war. Es wurde alles immer schwieriger – wirklich sehr schwierig… Vor allem, als dann der Kurssturz kam. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals kaum noch genug zu essen. (Als Beamter muss man auf sein Äußeres achten.) Und da bekam ich das Angebot, mit Strümpfen zu reisen. Fester Lohn und Prozente von den getätigten Verkäufen.»

«Aber die Firma, bei der Sie behaupten angestellt gewesen zu sein, verneint diese Tatsache.»

Mr. Cust wurde wieder aufgeregt.

«Eben, das ist ja gerade das Komplott gegen mich! Sie müssen auch hineinverwickelt sein!» Er fuchtelte mit den Händen. «Ich habe doch Beweise – schriftliche Beweise! Die Briefe, die man mir schrieb, die Instruktionen, wohin und zu wem ich gehen sollte…»

«Alles maschinengeschrieben…!»

«Das ist doch einerlei. Natürlich schreibt man in großen Firmen heutzutage alles mit der Maschine und nicht mit der Hand!»

«Wissen Sie, Mr. Cust, dass man genau feststellen kann, mit welcher Maschine ein Brief geschrieben wurde? Alle diese Briefe wurden auf ein und derselben Maschine geschrieben.»

«Ja, und?»

«Und diese Maschine war Ihre eigene, Mr. Cust – jene, die in Ihrem Zimmer gefunden wurde.»

«Diese Maschine wurde mir ebenfalls von der Firma geschickt gleich zu Beginn meiner Anstellung.»