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«Gut, aber diese Briefe erhielten Sie erst später. Also sieht es eben so aus, als hätten Sie sich diese Briefe selber geschrieben und per Post zugeschickt.»

«Nein! Nein, das ist nicht wahr!» Und vehement fügte er bei: «Außerdem können die Briefe doch auf der gleichen Maschinenmarke geschrieben worden sein!»

«Stimmt, aber nicht auf der einen ganz bestimmten Maschine.»

«Es ist eine Verschwörung gegen mich!», beharrte Mr. Cust verbissen.

«Und die Fahrpläne, die man auf dem Gestell fand?»

«Ich wusste nichts von ihnen. Ich glaubte, es seien Strümpfe.»

«Warum machten Sie neben den Namen Ascher ein Kreuz in der Liste von Andover?»

«Weil ich beschlossen hatte, dort anzufangen. Irgendwo muss man ja beginnen, nicht wahr?»

«Gewiss, das stimmt. Irgendwo muss man beginnen!»

«So habe ich es nicht gemeint!», fuhr Mr. Cust auf. «Ich meine nicht dasselbe wie Sie!»

«Aber Sie wissen, wie ich es meine?»

Mr. Cust antwortete nicht. Er zitterte.

«Ich habe es nicht getan! Ich bin vollkommen unschuldig! Es ist alles ein großer Irrtum. Sehen Sie zum Beispieclass="underline" Während das zweite Verbrechen begangen wurde, das in Bexhill, da spielte ich in Eastbourne Domino. Das ist doch erwiesen!»

«Ja», erwiderte Poirot nachdenklich, und seine Stimme klang weich und seidig. «Aber, nicht wahr, man könnte sich doch so leicht um einen Tag vertun? Und wenn man dann ein rechthaberischer Mann ist wie Mr. Strange, dann leugnet man einfach die bloße Möglichkeit, dass man sich geirrt haben könnte. Dann hält man stur an seiner Aussage fest… So ist dieser Mr. Strange. Und die Gästeliste des Hotels – nun, auch da kann man sich mit Leichtigkeit unter dem falschen Datum einschreiben, denn das würde vermutlich keinem Menschen weiter auffallen.»

«Ich habe an jenem Abend Domino gespielt.»

«Sie spielen gut Domino, nicht wahr?»

Das brachte Mr. Cust ein wenig aus der Fassung. «Ich… ja, ich glaube schon.»

«Ein sehr anspruchsvolles Spiel. Man muss sehr aufmerksam und schlau sein dabei, nicht?»

«Oh, es ist vor allen Dingen ein Spiel – ein unterhaltsames Spiel! Wir haben es viel während unserer Lunchpausen gespielt. Sie würden sich wundern, wie eine Partie Domino die verschiedensten Menschen zusammenbringen kann.» Er lachte halblaut. «Ich erinnere mich an einen Mann… Ich habe ihn nie vergessen, weil er mir etwas sagte, etwas Merkwürdiges… Wir saßen beide bei einer Tasse Kaffee, und plötzlich spielten wir Domino. Also, ich schwöre Ihnen, nach zwanzig Minuten hatte ich das Gefühl, den Menschen jahrelang zu kennen.»

«Und was sagte er Ihnen?»

Mr. Custs Gesicht verdunkelte sich.

«Ich bin erschrocken – sehr erschrocken sogar. Er redete davon, dass man sein Schicksal in den Handlinien aufgezeichnet mit sich herumtrage. Und dann zeigte er mir seine Handfläche und die Linien, die darauf hinwiesen, dass er zweimal ganz knapp dem Tod durch Ertrinken entgehen werde – tatsächlich wurde er zweimal im letzten Augenblick gerettet. Und dann sah er sich meine Hände an und sagte mir ein paar ganz erstaunliche Sachen. Ich werde der berühmteste Mann von ganz England sein, ehe ich sterbe. Das ganze Land werde von mir sprechen, sagte er. Aber… aber…»

Mr. Cust brach ab – wich aus…

«Ja?» Poirots Blick wirkte hypnotisch. Mr. Cust sah ihm in die Augen, floh diesen starken, ruhigen Blick, und musste doch nach Sekunden wie gebannt zu ihm zurückkehren.

«Er sagte… er sagte, dass es ganz so aussehe, als ob ich eines gewaltsamen Todes sterben werde, und dann lachte er und behauptete, er habe das Gefühl, dass ich auf dem Schafott enden werde. Und dann lachte er noch mehr und sagte, er habe natürlich nur einen Spaß gemacht…»

Er verstummte plötzlich. Seine Blicke wanderten unruhig hin und her.

«Mein Kopf… Ich leide oft an Kopfschmerzen… grauenvollen Kopfschmerzen… Und dann gibt es Zeiten, wo ich nicht weiß… wo ich nicht weiß…» Er schwieg wieder.

Poirot beugte sich vor. Er sprach sehr ruhig, aber mit großer Überzeugungskraft.

«Immerhin wissen Sie ganz genau, dass Sie die Morde begangen haben, nicht wahr?»

Mr. Cust sah auf. Jetzt war sein Blick ganz einfach und klar. Jeder Widerstand schien in ihm zusammengebrochen zu sein. Er sah seltsam friedvoll aus.

«Ja», antwortete er, «das weiß ich.»

«Aber – darin irre ich mich nicht, oder doch? – Sie wissen nicht, warum Sie sie begangen haben?»

Mr. Cust schüttelte den Kopf.

«Nein, das weiß ich nicht.» 

34

 Wir befanden uns alle in einem Zustand höchster Spannung, als Poirot seinen Schlussbericht über den Fall ABC begann.

«Von allem Anfang an hatte mir das Warum Kopfzerbrechen verursacht», führte er aus. «Hastings hat mir neulich verkündet, der Fall sei nun abgeschlossen. Ich habe ihm erwidert, der Fall sei der Mann. Geheimnisvoll seien nicht die Morde an sich, sondern das Individuum ABC. Warum sah er sich zu diesen Morden gezwungen? Warum wählte er mich als seinen Gegner aus?

Diese Fragen damit zu beantworten, dass man feststellt, ABC sei geistig nicht normal, ist billig. Zu sagen, ein Mensch begehe wahnsinnige Taten, weil er eben wahnsinnig sei, scheint mir geistlos und dumm. Ein Verrückter handelt mit der gleichen Logik und Überlegung wie ein gesunder Mensch – selbstverständlich von seinem verworrenen und besonderen Standpunkt aus betrachtet. Wenn zum Beispiel ein Mann darauf besteht, nur mit einem Leintuch bekleidet durch die Straßen zu gehen, dann berührt uns das denkbar komisch. Sobald wir aber erfahren, dass dieser Mann sich einbildet, Mahatma Gandhi zu sein, müssen wir seinem Benehmen Logik und Vernunft zugestehen.

In unserem Fall war also vor allem eines wichtig: nämlich herauszubekommen, wer vier oder mehr Mordtaten durchaus richtig und notwendig finden konnte und wer diese seine Pläne Hercule Poirot mit einem gewissen Hohn vorher ankündigen zu müssen glaubte.

Mein Freund Hastings kann Ihnen bestätigen, dass ich vom ersten Augenblick an, da ich einen Brief von ABC erhielt, sehr unruhig und bedrückt war. Irgendetwas an diesem ersten Brief schien mir nicht zu stimmen.»

«Womit Sie ja ganz Recht hatten», bemerkte Clarke trocken.

«Ja. Aber damals, zu Beginn, machte ich einen schweren Fehler. Ich erlaubte meinem Gefühl – meinem sehr intensiven Gefühl bezüglich dieses Briefes – Gefühl zu bleiben. Ich behandelte es als unklare, ungerechtfertigte Ahnung. In einem ausgeglichenen und vernünftigen Geist haben Ahnungen keinen Platz. Vermuten kann man, gewiss, und eine Vermutung erweist sich früher oder später als richtig oder falsch. Bewahrheitet sie sich, dann spricht man gern von Eingebung – hat man sich geirrt, dann spricht man am liebsten gar nicht mehr davon. Sehr oft jedoch ist eine solche Eingebung in Wirklichkeit das Produkt logischer Überlegung oder großer Erfahrung. Wenn ein Sachverständiger spürt, dass mit einem Bild oder einem antiken Möbelstück oder einer Unterschrift auf einem Scheck etwas nicht stimmt, dann basiert dieses Gefühl auf einer Menge kleiner Anzeichen. Er braucht diesen gar nicht bis ins Detail nachzugehen. Seine Erfahrung erhärtet sein Gefühl, und das Ergebnis davon ist eben die Feststellung, dass etwas nicht stimmen könne. Aber das ist keine Vermutung, sondern ein auf Erfahrung gestütztes Wissen.

Eh bien, ich gestehe ein, dass ich den ersten Brief nicht so untersuchte, wie ich gesollt hätte. Er berührte mich sehr unangenehm – das ist aber auch alles. Die Polizei erblickte in jenem Schreiben lediglich einen dummen Scherz, wogegen es mich beunruhigte. Ich wusste, dass in Andover ein Mord passieren würde, wie es dann ja auch tatsächlich der Fall war.

Zum damaligen Zeitpunkt war keinerlei Aussicht vorhanden zu erfahren, wer der Täter war. Mir stand nur die Möglichkeit offen, herauszufinden, welche Art Mensch er war. Dazu standen mir einige Hinweise zur Verfügung. Der Brief, die Art des Mordes, die Ermordete. Was ich zu ergründen versuchte, war: das Motiv für diesen Mord – das Motiv für den Brief an mich.»