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«Drang, aufzufallen», warf Clarke ein.

«Ausgehend von einem Minderwertigkeitskomplex», fügte Thora Grey bei.

«Gewiss, das waren zwei wesentliche Punkte, denen ich nachzugehen hatte. Aber warum mich einbeziehen, mich, Hercule Poirot? Wenn diese Briefe direkt an Scotland Yard geschickt worden wären, hätten sie doch weit mehr Aufsehen erregt. Noch besser: Sie an eine Zeitung schicken! Eine Zeitung hätte vielleicht den ersten Brief unbeachtet gelassen; aber sobald einmal der zweite Mord, wie angekündigt, stattgefunden hätte, wäre eine Pressekampagne sondergleichen aufgezogen worden. Warum also Hercule Poirot? Aus persönlichen Gründen? Aus dem Brief ging, wenn auch sehr verschleiert, eine gewisse Abneigung gegen Ausländer hervor, aber das vermochte mich nicht hinreichend zu überzeugen.

Dann traf der zweite Brief ein, gefolgt vom Mord an Betty Barnard in Bexhill. Damals wurde klar, was ich längst vermutet hatte, dass die Mordtaten in alphabetischer Reihenfolge verübt wurden; aber auch das war für mich noch keine Antwort auf die wesentlichste Frage: Warum musste ABC diese Morde begehen?»

Megan Barnard setzte sich gerade auf.

«Gibt es nicht so etwas wie… wie Blutdurst?», fragte sie.

«Richtig, Mademoiselle, sehr richtig. Das gibt es. Mordgier, die Freude am Töten. Aber diese Erklärung passte wieder nicht zu den übrigen Gegebenheiten des Falles. Ein Wahnsinniger, der Freude am Morden hat, geht im Allgemeinen darauf aus, möglichst viele Opfer umzubringen. Darin liegt seine Besessenheit. Und zu diesem Zweck versucht er, seine Taten tunlichst zu verbergen, nicht, sie in großem Stil publik zu machen. Wenn wir die vier Toten näher betrachten – oder sagen wir drei von ihnen, denn ich weiß eigentlich nicht viel über Mr. Downes oder Mr. Earlsfield –, dann fällt uns auf, dass der Mörder, wenn er es gewollt hätte, sie hätte umbringen können, ohne dass der geringste Verdacht auf ihn gefallen wäre. Franz Ascher, Donald Fraser oder Megan Barnard, möglicherweise auch Mr. Clarke – das wären die Hauptverdächtigen gewesen, sofern sie nicht ihre Unschuld hätten beweisen können. Niemand hätte an einen unbekannten blutrünstigen Mörder gedacht! Warum also hielt es der Mann für nötig, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Warum fühlte er sich bemüßigt, bei jedem Leichnam einen ABC-Fahrplan zurückzulassen? Liegt vielleicht darin die Erklärung für seine Taten? Irgendein Komplex, der mit diesem Fahrplan in Verbindung steht?

Dieser Punkt schien mir lange Zeit vollkommen undurchsichtig. Es konnte doch ganz gewiss nicht Großmut sein, und ebenso wenig ein Zurückschrecken davor, dass ein Unschuldiger für die Untaten zur Rechenschaft gezogen werden könnte!

Und obwohl ich diese wichtigen Fragen nicht beantworten konnte, spürte ich, dass ich Schritt für Schritt den Mörder besser kennen lernte.»

«Inwiefern?», fragte Donald Fraser.

«Nun, erstens erkannte ich, dass sein Verstand ausgesprochen systematisch funktionierte. Seine Verbrechen genau nach Alphabet zu ordnen, schien ihm ungemein wichtig zu sein. Andererseits schien er in der Auswahl seiner Opfer keinerlei Gesetzen zu folgen. Mrs. Ascher, Betty Barnard, Sir Carmichael Clarke – drei Menschen aus völlig verschiedenen Lebenskreisen. Auch bezüglich Geschlecht und Alter war nirgends ein Zusammenhang zu entdecken, und gerade das berührte mich merkwürdig. Wenn ein Mensch so skrupellos mordet, dann schafft er meistens jemanden beiseite, der ihm in irgendeiner Weise im Wege steht. Aber das alphabetische Vorgehen bewies, dass diese Folgerung auf unseren Fall ebenfalls nicht zutraf. Dann gibt es eine andere Art von Mördern, die sich auf Typisierung ihrer Opfer festlegen – und zwar meistens Vertreter des anderen Geschlechts töten.

Im Vorgehen ABCs fiel mir also vor allem eine gewisse Zufälligkeit auf, die mit seinem sonst so schematischen Planen in Widerspruch zu stehen schien. Ich verlegte mich darauf, rein gefühlsmäßig dem Wesen dieses ABC näher zu kommen. Er ist ganz bestimmt ein – wenn ich mich so ausdrücken darf! – Mensch mit einem Fahrplanhirn. Das sind Männer viel häufiger als Frauen. Kleine Buben haben an Eisenbahnen mehr Freude als kleine Mädchen. Also konnte diese Vermutung auch darauf hinweisen, dass ABC in seiner geistigen Entwicklung irgendwie stehen geblieben war, dass er in mancher Hinsicht noch sehr jungenhaft reagierte.

Der Tod von Betty Barnard brachte mir weitere Erkenntnisse. Die Art ihres Sterbens war besonders aufschlussreich für mich. (Verzeihen Sie mir, Mr. Fraser!) Erstens war sie mit ihrem eigenen Gürtel erwürgt worden – ergo muss diese Tat jemand begangen haben, mit dem sie auf freundschaftlichem Fuße stand. Sobald ich ihren Charakter etwas näher kennen gelernt hatte, konnte ich mir ein recht deutliches Bild von diesem Vorgang machen.

Betty Barnard flirtete gern. Die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden Mannes schmeichelte ihr. Also muss ABC – der sie zu diesem Spaziergang überreden konnte – von angenehmem Äußeren und gewandt im Umgang sein. Er hat mit einem Wort Sex-Appeal! Ich stellte mir die Szene am Strand so vor: Der Mann bewundert Bettys Gürtel. Sie löst diesen und legt ihn sich spielerisch um den Hals – er lacht und sagt: ‹Jetzt könnte ich dich erwürgen!› – Ein lustiges Geplänkel – er zieht…»

Donald Fraser sprang auf. Er war totenblass.

«Monsieur Poirot! Um Gottes willen…»

Poirot machte eine besänftigende Handbewegung.

«Ruhig, es ist vorbei. Ich werde nichts mehr davon sagen. Wir kommen nun zum nächsten Mord, dem an Sir Carmichael Clarke. Hier kommt der Mörder auf sein erstes Vorgehen zurück, auf den Schlag von hinten. Wieder der alphabetische Komplex, aber etwas daran stört mich. Um ganz systematisch vorzugehen, hätte der Täter seine Ortschaften etwas folgerichtiger aussuchen müssen.

Wenn Andover der hundertfünfundfünfzigste Name unter Buchstabe A ist, dann hätte auch das B-Verbrechen im hundertfünfundfünfzigsten Ort stattfinden sollen – oder aber im hundertsechsundfünfzigsten und C im hundertsiebenundfünfzigsten und so weiter. Also schien auch die Stadt völlig zufällig ausgesucht worden zu sein.

Der Mord in Churston brachte mich in meinen Überlegungen kaum weiter. Es begann ja bereits damit, dass der Brief, der ihn mir ankündigen sollte, auf Umwegen und verspätet in meinen Besitz gelangte, so dass keine Zeit mehr blieb, irgendwelche Vorkehrungen zu treffen.

Dafür war ein um so umfassenderer Schlachtplan ausgearbeitet, als Mord D stattfand. ABC konnte nicht mehr hoffen, ungestraft weiter zu morden.

Außerdem fiel mir gerade in diesem Augenblick die Sache mit den Strümpfen auf. Es war ganz klar, dass die Anwesenheit eines Mannes, der an sämtlichen Tatorten Strümpfe verkauft hatte, kein Zufall sein konnte. Folglich musste der Strumpfverkäufer der Täter sein. Ich muss gestehen, dass die Beschreibung, die Miss Grey uns von diesem Verkäufer gab, mich nicht befriedigte und nicht mit meiner Vorstellung von diesem Menschen übereinstimmte.

Was dann folgte, ist bald geschildert. Ein vierter Mord wurde begangen – dass er Mr. Earlsfield traf, wurde sofort als möglicher Irrtum des Mörders betrachtet, weil ein Mann namens Downes im Kino dicht neben Mr. Earlsfield saß und ihm in Größe und Kleidung sehr ähnlich sah – und damit begann der Szenenwechsel! Die Ereignisse richteten sich gegen ABC! Er wurde erkannt, gejagt – und schließlich verhaftet! Der Fall ist, wie Hastings behauptet, also abgeschlossen!

Das mag stimmen, sofern man die öffentliche Meinung in Betracht zieht. Der Mann sitzt im Gefängnis und wird ganz zweifellos nach Broadmoor geschickt werden. Es wird keine neuen Morde mehr geben. Abgang! Finis! R.I.P.!

Aber ich bin nicht befriedigt! Ich weiß nichts! Gar nichts! Nichts über das Warum, Wozu und Weshalb!