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Und etwas beschäftigt mich ganz besonders: dass der Mann Cust für die Nacht des Bexhill-Mordes ein Alibi hat!»

«Das hat auch mir viel zu denken gegeben», sagte Clarke.

«Ja, das beunruhigt mich. Denn dieses Alibi scheint wirklich echt und unangreifbar zu sein. Aber es kann gar nicht echt sein, wenn nicht… und das führt uns zu interessanten Spekulationen! Nehmen wir einmal an, meine Freunde, dass Cust zwar drei der Morde verübte – A, C und D –, dass aber Mord B nicht auf sein Konto geht!»

«Aber Monsieur Poirot, das wäre doch…»

Poirot schnitt Megan mit einem scharfen Blick das Wort ab.

«Schweigen Sie, Mademoiselle! Ich suche die Wahrheit! Lügen widern mich an! Setzen wir also voraus, dass ABC den zweiten Mord nicht beging, der, wie wir alle wissen, in den ersten Morgenstunden des Fünfundzwanzigsten geschah – dem Tag, an dem er für dieses Verbrechen hingereist war. Ist ihm jemand zuvorgekommen? Was sollte er in diesem Fall tun? Einen zweiten Mord begehen? Oder einfach die Hände in den Schoß legen und das Geschehene wie ein Geschenk betrachten?»

«Monsieur Poirot, das sind irrsinnige Gedankengänge!», rief Megan. «Diese vier Verbrechen müssen von ein und demselben Menschen begangen worden sein!»

Er überging ihren Einwurf und fuhr unbeirrt fort:

«Diese Voraussetzung hat den einen Vorteil, dass sie die Diskrepanz zwischen der Person des Alexander Bonaparte Cust (der ganz bestimmt niemals Mädchenherzen zu betören vermochte!) und der Person des Mörders von Betty Barnard deutlich macht. Und es ist ja eine bekannte Tatsache, dass Menschen, die sich als Mörder versuchen wollen, sehr oft Vorteil aus Verbrechen ziehen, die andere begangen haben. Längst nicht alle Untaten von Jack the Ripper sind tatsächlich von ihm begangen worden! Dies nur als Beispiel!

Aber schon tauchte eine neue Schwierigkeit auf.

Zum Zeitpunkt des Mordes an Betty Barnard war noch nichts über die ABC-Morde veröffentlicht gewesen. Die Tragödie von Andover war sozusagen unbemerkt geblieben. Der aufgeschlagene Fahrplan war in den Zeitungen überhaupt nicht erwähnt worden. Daraus schloss ich, dass, wer immer Betty Barnard ermordet hatte, Tatsachen gewusst haben muss, die damals nur wenigen Menschen – der Polizei, einigen Verwandten und Nachbarn von Mrs. Ascher und mir – bekannt gewesen sind. Und mit dieser Feststellung schien ich wirklich vor einer blanken, weißen Mauer zu stehen.»

Die Gesichter, die Poirot zugewandt waren, glichen dieser Beschreibung: auch sie waren undurchdringlich – und erstaunt.

Donald Fraser sagte nachdenklich: «Schließlich sind auch Polizisten nur Menschen. Und sie sehen gut aus…» Er brach ab und sah Poirot fragend an.

Mein Freund schüttelte den Kopf.

«Nein, es ist weit einfacher als das. Ich ging einer anderen Möglichkeit nach.

Wenn Cust nicht für den zweiten Mord verantwortlich war, wenn Betty Barnard von jemand anders umgebracht worden war, konnte dann dieser Jemand auch die beiden anderen Morde begangen haben?»

«Aber das klingt doch vollkommen unsinnig!», rief Clarke.

«Finden Sie? Da erst tat ich, was ich von allem Anfang an hätte tun sollen: Ich las die Briefe, die man mir geschrieben hatte, von einer ganz anderen Warte aus noch einmal durch. Ohne mir das lange zu überlegen, hatte ich von Anfang an angenommen, dass diese Briefe von einem Verrückten geschrieben worden seien. Jetzt prüfte ich sie wieder und wieder – und diesmal gelangte ich zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Mich hatte schon zu Beginn etwas an diesen Briefen gestört – nun erkannte ich, dass dieses unbehagliche Gefühl daher rührte, dass diese Briefe von einem durchaus normalen Menschen verfasst worden waren!»

«Was?», schrie ich auf.

«Ja, mein Guter! Diese Briefe waren Fälschungen! Man sollte glauben, dass sie von einem Geistesgestörten stammten, von einem mordbesessenen Wahnsinnigen, aber in Wirklichkeit sind sie ganz anderer Herkunft.»

«Das klingt doch unsinnig!», wiederholte Franklin Clarke.

«Ganz und gar nicht! Man muss nur nachdenken. Wozu sind diese Briefe geschrieben worden? Um die Aufmerksamkeit auf den Schreiber zu lenken und um die Morde anzukündigen. Das schien mir anfänglich ziemlich unklar. Aber plötzlich sah ich die Zusammenhänge. Diese Briefe sollten verschiedene Morde, eine Reihe von Morden publik machen… Hat nicht Ihr großer Shakespeare gesagt, man könne den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen?»

Ich unterließ es, Poirots literarische Kenntnisse zu korrigieren. Seine Ausführungen nahmen mich gefangen. Langsam dämmerte mir etwas.

«Wann bemerkt man eine Stecknadel am wenigsten?», fuhr er fort. «Wenn sie im Nadelkissen steckt. Wann fällt einem ein ganz individueller Mord am wenigsten auf? Wenn er Teil einer ganzen Serie ähnlicher Morde ist.

Ich hatte mich also mit einem ungewöhnlich klugen, bedachten Mörder auseinanderzusetzen – mit einem gewissenlosen, tollkühnen Menschen, der zugleich ein Spieler war. Nicht mit diesem Mr. Cust! Er hätte diese Morde niemals begehen können! Nein, ich musste mit einem Menschen von gänzlich anderem Kaliber rechnen, mit einem Mann, der irgendwo ein großes Kind geblieben war (Beweis: die schulbubenhaften Briefe und die Fahrpläne) – mit einem gut aussehenden Mann, der auf Frauen wirkte, und mit einem Mann, der keinerlei Respekt vor einem Menschenleben hatte und der in einem der Verbrechen eine wesentliche Rolle spielte!

Überlegen Sie, welchen Fragen die Polizei zuerst nachgeht, sobald ein Mord geschehen ist. Gelegenheit: Wo hielten sich die Menschen aus der Umgebung des Opfers zur fraglichen Zeit auf? Motiv: Wer durch diesen Tod profitiert? Wenn nun Gelegenheit und Motiv so ziemlich klar sind, was wird der Mörder tun? Er wird ein Alibi türken – das heißt, er wird die Zeitangaben irgendwie manipulieren. Aber das ist immer ein sehr schwieriges Unterfangen. Unser Mörder dachte sich eine viel fantastischere Verteidigung aus! Er schuf den mordbesessenen Wahnsinnigen! Nun musste ich bloß noch die verschiedenen Mordtaten im Geiste durchgehen, um die schuldige Person ausfindig zu machen. Der Mord in Andover? Der Hauptverdächtige war Franz Ascher. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er diese raffinierten Pläne ausgedacht und derart wohl überlegte Morde ausgeführt haben sollte. Der Mord in Bexhill? Donald Fraser war eine Möglichkeit. Er ist gescheit und geschickt, hat die Fähigkeit, logisch und kühl zu denken – aber sein Motiv für den Mord an seiner Freundin hätte nur Eifersucht sein können, und Eifersucht lässt keinen kalten Vorbedacht zu. Auch erfuhr ich, dass er seinen Urlaub Anfang August hatte, was praktisch ausschloss, dass er mit dem Mord in Churston irgendetwas zu tun hatte. Damit kommen wir zu diesem Mord in Churston, und sofort stehen wir auf ziemlich sicherem Grund.

Sir Carmichael Clarke war ein sehr reicher Mann. Wer erbt sein Geld? Seine Frau, die todkrank ist, und danach geht das ganze Vermögen an seinen Bruder – Franklin Clarke.»

Poirot drehte sich langsam um, bis er Franklin Clarke in die Augen sehen konnte.

«Und da war ich meiner Sache ganz sicher. Der Mensch, den ich nur aus meinen Vorstellungen kannte, und der Mann, der mir im Leben gegenübertrat, wurden eins. ABC und Franklin Clarke waren ein und dieselbe Person! Der kühne, abenteuerliche Charakter, die Reiselust, die Voreingenommenheit für England – all das hatte sich, wenn auch sehr undeutlich, bereits in den Briefen ausgedrückt, in seinem Hohn auf mich als Ausländer. Ein sicheres, elegantes Benehmen – nichts leichter für ihn, als einer kleinen Kellnerin den Kopf zu verdrehen. Methodischer, tabellarischer Verstand – dafür sprach die ordentliche Liste, die er kürzlich hier erstellte, als wir unsere Rollen für die Jagd nach ABC verteilten. Und schließlich: der knabenhafte Zug – den Lady Clarke mir gegenüber erwähnte und der auch durch seinen Geschmack in Bezug auf seine Lektüre belegt wird: Ich habe mich davon überzeugt, dass in seiner Bibliothek das Buch ‹The Railway Children› von E. Nesbit steht. Nun zweifelte ich nicht mehr daran, dass ABC, der Mann, der Briefe schrieb und Morde beging – Franklin Clarke war.»