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Es ist ganz klar, dass dieser Brief verloren gehen sollte! Die Polizei sollte die Spur erst aufnehmen, wenn das Verbrechen bereits geschehen war. Der allabendliche Spaziergang Ihres Bruders verschaffte Ihnen die gewünschte Gelegenheit, und inzwischen war das öffentliche Entsetzen über die ABC-Morde bereits derart allgemein, dass niemand auch nur entfernt an Ihre Schuld dachte.

Nach dem Ableben Ihres Bruders hatten Sie eigentlich den Zweck erreicht, um den es Ihnen ging. Sie hatten keine Lust, noch weiterzumorden. Andererseits hätte ein Aufhören dieser Verbrechen sehr leicht Verdacht erregen und möglicherweise die Wahrheit an den Tag bringen können.

Ihr Sündenbock, Mr. Cust, hatte seine Rolle als unsichtbarer – weil unscheinbarer! – Anwesender so vollendet gespielt, dass bis dahin niemand bemerkt hatte, dass er an allen drei Tatorten aufgetaucht war! Zu Ihrer Verärgerung war nicht einmal sein Besuch in Combside erwähnt worden, weil Miss Grey diesen kleinen Zwischenfall einfach vergessen hatte. Tollkühn, wie immer, beschlossen Sie einen letzten Mord, einen, der Mr. Cust viel deutlicher belasten sollte als die bisherigen.

Sie wählten Doncaster als Schauplatz aus.

Ihr Plan war sehr einfach. Sie selber würden ohnehin am Tatort sein, und Mr. Cust wurde von seiner Firma dorthin geschickt. Nun mussten Sie sich lediglich darauf verlassen, Mr. Cust folgen zu können und dabei auf eine gute Gelegenheit zu stoßen. Sie hatten Glück. Mr. Cust besuchte ein Kino. Einfacher ging es wirklich nicht mehr! Sie setzten sich ein paar Sitze von ihm entfernt nieder. Als er sich erhob, um zu gehen, taten Sie dasselbe. Sie gaben vor, zu stolpern, lehnten sich vor und erstachen einen schlafenden Mann in der vorderen Sitzreihe. Dann schoben Sie einen ABC-Fahrplan unter seinen Sitz, stießen im Hinausgehen heftig mit Mr. Cust zusammen, wobei Sie das Messer an seinem Mantelärmel abwischten und dann geschickt in seine Tasche gleiten ließen.

Sie brauchten sich nicht im Mindesten darum zu kümmern, ob Ihr letztes Opfer einen Namen mit D am Anfang hatte. Jetzt war Ihnen jedermann recht! Sie setzten voraus – und zwar sehr richtig –, dass man allgemein annehmen würde, es sei Ihnen ein Fehler unterlaufen. Und sicherlich würde irgendjemand, dessen Name mit D begann, in unmittelbarer Nähe des Ermordeten gesessen haben, worauf man selbstverständlich sagen würde, dass eigentlich dieser Mensch hätte ermordet werden sollen.

Und nun, verehrte Anwesende, wollen wir die Morde vom Standpunkt des Mr. Cust aus betrachten… des falschen ABC, wenn ich so sagen darf.

Der Mord in Andover berührt ihn überhaupt nicht. Der in Bexhill erstaunt und erschüttert ihn. Begreiflich – er war doch selber zu jenem Zeitpunkt dort gewesen! Dann wird das Verbrechen von Churston begangen und in allen Zeitungen in dicken Schlagzeilen veröffentlicht! Ein ABC-Mord in Andover, als er dort war, ein ABC-Mord in Bexhill, als er dort war, und nun ein neuer Mord unweit davon… Drei Morde, und er war immer am Schauplatz dieser Untaten! Menschen, die an Epilepsie leiden, haben manchmal Absenzen, Augenblicke, in denen sie sich nicht erinnern können, was sie getan haben… Bedenken Sie, dass Cust ein außergewöhnlich nervöser, neurotischer Typ ist und ungemein beeinflussbar.

Da bekommt er den Auftrag, nach Doncaster zu fahren.

Doncaster! Und das nächste ABC-Verbrechen soll in Doncaster stattfinden! Wahrscheinlich ist ihm dieses Zusammentreffen schicksalhaft vorgekommen. Er verliert die Nerven, bildet sich ein, seine Zimmerwirtin sehe ihn argwöhnisch an, und erzählt ihr, er fahre nach Cheltenham.

Aber er fährt pflichtgemäß nach Doncaster. Am Nachmittag geht er in ein Kino. Vielleicht schläft er dort ein paar Minuten lang ein. Stellen Sie sich nun seine Gefühle vor, als er, in sein Gasthaus zurückgekehrt, bemerkt, dass Blut an seinem Mantelärmel klebt, dass er ein blutbeflecktes Messer in der Tasche hat! Das verwandelt all seine unklaren Ahnungen in grauenvolle Gewissheit. Er! Er selber ist der Mörder! Seine Kopfschmerzen fallen ihm ein, seine Erinnerungslücken! Er wird seiner Sache immer sicherer, dass er – Alexander Bonaparte Cust – ein mordbesessener Wahnsinniger ist.

Sein Benehmen nach dieser Erkenntnis ist dem eines gejagten Tieres vergleichbar. Er flüchtet in sein Zimmer in London zurück. Dort ist er sicher – dort kennt man ihn. Die Marburys glauben, dass er in Cheltenham gewesen sei. Noch trägt er das Messer mit sich herum – was natürlich unsagbar dumm ist! Er versteckt es hinter dem Garderobenständer.

Dann wird er eines schönen Tages gewarnt, dass die Polizei ihn aufsuchen werde. Das ist das Ende! Alles ist entdeckt!

Das gehetzte Tier unternimmt seinen letzten Fluchtversuch.

Ich weiß nicht, warum er nach Andover fuhr… Wahrscheinlich getrieben von dem makabren Wunsch, den Tatort zu sehen – den Tatort des Mordes, den er begangen hat, obwohl er sich keineswegs daran erinnern kann…

Er hat kein Geld mehr – er ist am Ende seiner Kraft…

Seine Füße tragen ihn völlig willenlos zur Polizeistation. Aber selbst ein in die Enge getriebenes Tier kämpft noch. Mr. Cust ist vollkommen davon überzeugt, dass er die Untaten begangen hat, bleibt aber trotzdem dabei, seine Unschuld zu beteuern. Mit ganz besonders verzweifelter Hartnäckigkeit hält er an seinem Alibi für den zweiten Mord fest. Der wenigstens könne ihm nicht zur Last gelegt werden.

Wie ich bereits sagte, wusste ich sofort, als ich ihn sah, dass er nicht der Mörder sein konnte und dass ihm mein Name Schall und Rauch war. Ich wusste aber auch, dass er sich einredete, der Mörder zu sein!

Nachdem er mir ein Geständnis abgelegt hatte, war ich von der Richtigkeit meiner Theorie mehr denn je überzeugt.»

«Ihre Theorie», sagte Franklin Clarke, «ist absurd!»

Poirot schüttelte den Kopf.

«Nein, Mr. Clarke. Sie waren in Sicherheit, solange niemand Sie verdächtigte. Nachdem der erste Verdacht gegen Sie vorlag, waren die Beweise leicht zu beschaffen.»

«Beweise?»

«Gewiss. Ich fand den Knotenstock, den Sie für den Mord in Andover benützten, in einem Schrank des Hauses Combside. Ein gewöhnlicher Spazierstock, von dessen Griff ein Stück Holz entfernt und durch Blei ersetzt worden war. Verschiedene Leute haben aus einem halben Dutzend Fotografien die Ihrige als diejenige des Mannes herausgefunden, der das Kino etwas vorzeitig verließ, zu einem Zeitpunkt übrigens, da jedermann Sie bei den Rennen glaubte. Neulich wurden Sie in Bexhill von Milly Higley wiedererkannt, und ein Mädchen aus dem ‹Scarlet Runner Roadhouse›, wohin Sie Betty Barnard an dem tragischen Abend eingeladen hatten, konnte Sie ebenfalls identifizieren. Und schließlich – verdammtes Pech! – ließen Sie eine grundlegende Vorsichtsmaßnahme außer Acht. Sie hinterließen Fingerabdrücke auf der Schreibmaschine Mr. Custs – einer Schreibmaschine, die Sie, falls Sie unschuldig sind, nie im Leben berührt haben können!»

Clarke saß sehr ruhig da. Nach einer Minute lastenden Schweigens sagte er:

«Rouge, impair, manque! Sie haben gewonnen, Monsieur Poirot! Aber der Versuch hat sich trotzdem gelohnt!»

Mit einer unglaublich raschen Bewegung zog er einen Revolver aus der Tasche und hielt ihn an seine Schläfe.

Ich schrie auf und duckte mich unwillkürlich, während ich auf den Schuss wartete. Aber es erfolgte keine Detonation – nur ein harmloses Knacken des Hahns war zu hören. Clarke sah die Waffe fassungslos an und fluchte.

«Nein, Mr. Clarke», sagte Poirot. «Es ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich heute einen neuen Kammerdiener habe. Ein Freund von mir, einer der geschicktesten Taschendiebe der Welt. Der holte den Revolver aus Ihrer Tasche, entlud ihn und steckte ihn Ihnen wieder zu, ohne dass Sie das Geringste davon bemerkt haben.»

«Sie ekelhafter kleiner Stutzer von einem Ausländer!», schrie Clarke rot vor Zorn.