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«Eine seltsame Art von Scherz! Wollen Sie mir sagen, wo Sie gestern Abend waren, Ascher?»

«Ja, natürlich – alles will ich Ihnen sagen. Ich habe Alice nicht einmal gesehen. Ich war mit Freunden, mit sehr guten Freunden zuerst in den ‹Seven Stars›, dann im ‹Red Dog› und dann…»

Er sprach so schnell, dass er sich dauernd verhaspelte.

«Dick Willows – er war bei mir – und der alte Curdie und George – und Platt und noch viele andere. Ich sage Ihnen, dass ich Alice nie auch nur in die Nähe gekommen bin. Ach Gott! Es ist wahr, was ich Ihnen sage!»

Er begann wieder zu schreien. Der Inspektor nickte seinem Untergebenen zu.

«Führen Sie ihn ab. Untersuchungshaft.»

«Ich weiß nicht, was ich davon halten soll», sagte er, als der unappetitliche, zitternde alte Mann mit dem verschlagenen Blick abgeführt worden war. «Wenn ich den Brief nicht gesehen hätte, würde ich jetzt behaupten, er sei der Täter.»

«Was ist mit den Leuten, die er vorhin erwähnte?»

«Eine üble Bande. Nicht einer von ihnen würde vor einem Meineid zurückschrecken. Ich zweifle nicht daran, dass er den größten Teil des Abends tatsächlich mit ihnen verbracht hat. Jetzt hängt alles davon ab, ob er zwischen halb sechs und sechs Uhr in der Nähe des Ladens gesehen worden ist.»

Poirot schüttelte nachdenklich den Kopf.

«Sind Sie ganz sicher, dass nichts aus dem Geschäft gestohlen wurde?»

Der Inspektor zuckte die Achseln. «Das kommt darauf an. Vielleicht sind ein, zwei Päckchen Zigaretten mitgenommen worden; aber dafür würde doch kein Mensch einen Mord begehen!»

«Und wurde auch nichts – wie soll ich sagen? –, wurde nichts in das Geschäft hineingetragen? Ich meine, war nichts dort, was Sie seltsam fanden, irgendetwas nicht dorthin Gehörendes?»

«Ein Fahrplan lag dort», antwortete der Inspektor. «Ein Fahrplan?»

«Ja. Er lag aufgeschlagen, mit dem Rücken nach oben, auf dem Ladentisch. Es sah aus, als hätte jemand die Züge ab Andover studiert – entweder die alte Frau oder ein Kunde.»

«Ein Fahrplan, wie sie welche verkaufte?»

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

«Sie verkaufte nur die billigen Lokalfahrpläne. Dieser hier war eine große Ausgabe – ein Kursbuch sozusagen.»

Poirots Augen begannen plötzlich zu funkeln. Er beugte sich vor. «Ein Fahrplan? Ein Bradshaw… oder ein ABC?»

Jetzt glühte auch in des Inspektors Augen ein Licht auf. «Bei Gott», sagte er leise, «es war ein ABC.» 

5

 Ich glaube, mit dieser ersten Erwähnung eines ABC-Fahrplanes erwachte überhaupt erst mein Interesse für diesen Fall. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht viel Begeisterung für die Sache aufbringen können. Die gemeine Ermordung einer alten Frau in ihrem kleinen Laden entsprach so sehr den täglichen Meldungen der Zeitungen, dass mich das Ganze wirklich nicht zu fesseln vermochte. Ich hatte auch bereits den anonymen Brief samt dem Datum vom Einundzwanzigsten als reinen Zufall abgetan. Für mich stand fest, dass Mrs. Ascher von ihrem betrunkenen, brutalen Mann erschlagen worden war. Aber nun hatte die Erwähnung eines ABC-Fahrplans (so genannt und allgemein bekannt, weil er die Stationen in alphabetischer Reihenfolge aufführte) mich wie ein elektrischer Schlag durchzuckt. Bestimmt – ganz bestimmt konnte das nicht schon wieder ein Zufall sein!

Das dumpfe Alltagsverbrechen bekam ein neues Gesicht. Wer war der geheimnisvolle Unbekannte, der Mrs. Ascher ermordet und einen ABC-Fahrplan am Tatort liegen lassen hatte?

Als wir den Polizeiposten verlassen hatten, galt unser erster Besuch der Leichenhalle, um die alte Frau zu sehen. Ein eigentümliches Gefühl erfasste mich, als ich auf das runzelige Gesicht und die straff zurückgekämmten schütteren Haare niederblickte. Es sah so friedlich aus, aller Grausamkeit so weit entrückt.

«Hatte keine Ahnung, wer und was sie von hinten erschlug», bemerkte der Sergeant. «Das sagt auch Dr. Kerr. Ich bin froh, dass es so war. Die Arme! War eine anständige Frau, das war sie.»

«Sie muss einmal sehr schön gewesen sein», murmelte Poirot.

«Glauben Sie?», fragte ich verwundert.

«Aber ja! Sehen Sie sich doch nur die Wangenlinie an, die Stirnknochen, die Kopfform.»

Er seufzte, als er das Tuch wieder über den Leichnam breitete, und wir verließen den makabren Ort.

Unser nächster Besuch galt dem Polizeiarzt. Dr. Kerr war ein tüchtiger Mann in mittleren Jahren. Er sprach ein wenig abgehackt, aber sehr klar.

«Die Waffe wurde nicht gefunden», berichtete er uns. «Unmöglich zu sagen, was es gewesen sein könnte. Ein schwerer Stock, eine Keule, eine Art Sandsack – lauter Eventualitäten in diesem Fall.»

«Hat der Schlag viel Kraft erfordert?»

Der Arzt warf Poirot einen aufmerksamen Blick zu.

«Sie meinen, ob ein zittriger alter Mann von siebzig Jahren ihn hätte ausführen können, nicht wahr? Gewiss, das wäre durchaus möglich. Vorausgesetzt, dass das Kopfende der Waffe schwer genug war, konnte ein körperlich sogar recht schwacher Mensch das erhoffte Resultat erzielen.»

«Also könnte der Mörder ebenso gut eine Frau wie ein Mann gewesen sein?»

Diese logische Folgerung schien den Arzt zu verwirren.

«Eine Frau? Nun, ich muss gestehen, dass mir noch nie der Gedanke kam, eine Frau mit einem Verbrechen dieser Art in Verbindung zu bringen. Aber es ist natürlich möglich – sehr gut sogar. Trotzdem möchte ich vom rein psychologischen Standpunkt aus behaupten, dass dieser Mord nicht von einer Frau begangen worden ist.»

Poirot nickte heftig Zustimmung.

«Richtig, sehr richtig! Das scheint wirklich äußerst unwahrscheinlich zu sein. Aber man muss eben alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wie wurde der Leichnam gefunden, ich meine, wie lag er da?»

Der Arzt gab uns eine genaue Schilderung von der Position des Opfers. Er war der Ansicht, dass die alte Frau mit dem Rücken zum Ladentisch stand (und also auch zu ihrem Angreifer), als der Schlag erfolgte. Daraufhin war sie hinter dem Ladentisch zusammengesunken, so dass sie für jeden neu Eintretenden unsichtbar wurde.

Als wir uns bei dem Arzt bedankt und uns verabschiedet hatten, sagte Poirot:

«Bemerken Sie, Hastings, dass wir schon wieder einen Beweis für Aschers Unschuld haben? Wenn er gekommen wäre und seine Frau angeschrien und bedroht hätte, dann wäre sie ihm doch wohl hinter dem Ladentisch Auge in Auge gegenübergestanden. So aber hatte sie dem Mörder den Rücken zugewandt – ganz bestimmt, um ein Päckchen Zigaretten vom Gestell zu nehmen und einem Kunden auszuhändigen.»

Mich überlief es kalt.

«Ziemlich grausig», murmelte ich.

Poirot nickte.

«Pauvre femme.»

Dann sah er auf die Uhr.

«Overton ist nicht weit von hier, glaube ich. Wollen wir hinfahren und uns mit dieser Nichte unterhalten?»

«Sollten Sie sich nicht zuerst den kleinen Laden anschauen, wo das Verbrechen stattgefunden hat?»

«Das möchte ich lieber erst danach tun.»

Weitere Erklärungen schien er nicht abgeben zu wollen, und wenige Minuten später fuhren wir bereits Richtung Overton.

Die Adresse, die der Inspektor uns aufgeschrieben hatte, führte zu einem großen, schönen Haus, das ungefähr eine Meile außerhalb des Dorfes lag.

Auf unser Läuten hin erschien ein hübsches dunkelhaariges Mädchen, dessen Augen rot verweint waren.

«Ach!» Poirot war die rücksichtsvolle Liebenswürdigkeit in Person. «Wenn ich nicht irre, dann sind Sie Miss Mary Drewer, Stubenmädchen in dieser Villa?»

«Ja, Sir, das stimmt. Ich bin Mary.»

«Dürfte ich wohl ein paar Minuten mit Ihnen sprechen, wenn Ihre Herrin nichts dagegen hat. Es handelt sich um Ihre Tante, Mrs. Ascher.»