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„Warum sagst du es nicht selbst?" fragte Martens. „Da ist das Telephon."

„Und wenn jemand bei ihr ist? Dieser Bruder, der mich schon einmal angezeigt hat?"

„Du hast recht. Sie würde wahrscheinlich ebenso fassungslos sein wie ich. Das könnte sie verraten."

„Ich weiß nicht einmal, wie sie zu mir steht, Rudolf. Es ist fünf Jahre her, und vorher waren wir nur vier Jahre verheiratet. Fünf Jahre sind mehr als vier — und Abwesenheit ist zehnmal länger als Zusammensein.'" Er nickte. „Ich begreife dich nicht", sagte er. „Das mag sein. Ich mich auch nicht. Wir führen verschiedene Leben."

„Warum hast du ihr nicht geschrieben?" „Das kann ich dir jetzt nicht erklären, Rudolf. Geh zu Helen. Sprich mit ihr. Finde heraus, was sie denkt. Wenn du es für richtig hältst, sage ihr, ich sei hier, und frage sie, wie ich sie treffen kann." „Wann soll ich gehen?" „Sofort", sagte ich erstaunt. „Wann sonst?" Er sah sich um. „Wo bleibst du in der Zwischenzeit? Hier ist es unsicher. Das Dienstmädchen kann heruntergeschickt werden, wenn meine Frau nichts von mir hört. Sie ist gewöhnt, daß ich nach der Sprechstunde heraufkomme. Oder ich müßte dich einschließen, aber das würde auch auffallen."

„Ich will nicht eingeschlossen werden", erklärte ich. „Kannst du deiner Frau nicht sagen, du müßtest einen Patienten besuchen?"

„Ich werde ihr das nachher sagen. Das ist einfacher."

Ich sah einen Schein in seinen Augen, und mir war, als kniffe er das linke für eine Sekunde etwas zu. Es erinnerte mich an unsere Knabenzeit. „Ich werde solange in den Dom gehen", sagte ich. „Kirchen sind heute fast noch so sicher wie im Mittelalter. Wann soll ich dich anrufen?"

„In einer Stunde. Ruf an als Otto Sturm. Wie kann ich dich finden? Willst du nicht lieber irgendwohin gehen, wo ein Telephon ist?"

„Wo ein Telephon ist, ist Gefahr."

„Ja, vielleicht." Er stand einen Augenblick unentschlossen. „Ja, vielleicht hast du recht. Wenn ich noch nicht zurück bin, rufe wieder an — oder hinterlasse, wo du bist."

„Gut."

Ich nahm meinen Hut. „Josef", sagte er.

Ich wandte mich um.

„Wie ist es draußen?" fragte er. „So — ohne alles..."

„Ohne alles?" erwiderte ich. „Ungefähr so: ohne alles. Nicht ganz. Und wie ist es hier? Mit allem und ohne das eine?"

„Nicht gut", sagte er. „Nicht gut, Josef. Aber es sieht glänzend aus."

Ich ging durch die am wenigsten belebten Straßen zum Dom. Es war nicht weit. In der Krahnstraße kam eine Kompanie marschierender Soldaten an mir vorbei. Sie sangen ein Lied, das ich nicht kannte. Auf dem Domplatz sah ich wieder Soldaten. Etwas weiter fort, vor den drei Kreuzen der Kleinen Kirche, standen etwa zwei- oder dreihundert Personen dicht beieinander. Fast alle waren in Parteiuniform. Ich hörte eine Stimme und suchte nach dem Redner, aber ich fand keinen. Nach einer Weile entdeckte ich auf einem Podium einen schwarzen Lautsprecher. Er stand dort, beleuchtet, kahl und allein, ein Automat, und schrie über das Recht der Wiedereroberung allen deutschen Bodens, das größere Deutschland, Rache und die Tatsache, daß der Frieden der Welt gesichert sei, wenn die Welt das täte, was Deutschland wolle, und das sei das Recht.

Es war wieder windig geworden, und die schwankenden Zweige warfen ihre unruhigen Schatten über die Gesichter, die schreiende Maschine und die stillen Steinskulpturen auf der Kirchenwand dahinter: Christus und die beiden Schächer am Kreuze. Die Gesichter der Zuhörer waren gesammelt und verklärt. Sie glaubten, was der Automat ihnen zuschrie, und es war bezeichnend für die sonderbare Hypnose, die hier vorging, daß sie ihm, der sie nicht hören oder sehen konnte, zuklatschten, als sei er ein Mensch. Es schien mir auch bezeichnend zu sein für die leere, finstere Besessenheit unserer Zeit, die voll Furcht und Hysterie Schlagworten folgt, ganz gleich, ob jemand von rechts oder von links sie schreit, wenn er der Masse nur das lästige Denken und die Verantwortung abnimmt, für das einstehen zu müssen, was sie fürchtet und dem sie nicht ausweicht.

Ich hatte nicht erwartet, so viele Leute im Dom zu finden. Dann fiel mir ein, daß es die letzten Tage im Mai waren und daß in diesem Monat jeden Abend eine Andacht abgehalten wird. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich nicht lieber in eine der protestantischen Kirchen gehen sollte; aber ich wußte nicht, ob sie abends offen waren. Ich drückte mich nahe am Eingang in eine leere Bank. Am Altar schimmerten die Kerzen; der Rest der Kirche war nur wenig erleuchtet, und ich war nicht leicht zu erkennen.

Der Priester wanderte am Altar in einer Wolke von Weihrauch, Brokat und Licht langsam hin und her, um ihn herum die Meßdiener in roten Röcken mit weißen Überwürfen und dem dampfenden Weihrauchfaß. Ich hörte die Orgel und den Chorgesang, und plötzlich war mir, als sähe ich dieselben hingerissenen Gesichter wie draußen, Augen, die sich ebenso in einem entrückten, offenen Schlaf zu befinden schienen, voll von Glauben ohne Frage und Wunsch nach Sicherheit und Unverantwortlichkeit. Alles war sanft hier und milder als draußen; aber diese Religion der Liebe zu Gott und dem Nächsten war nicht immer so milde gewesen: auch sie hatte durch die finsteren Jahrhunderte viel Blut gekostet. Im Augenblick, wo sie selbst nicht mehr verfolgt wurde, hatte auch sie zu verfolgen begonnen mit Scheiterhaufen, Schwert und Folter. Helens Bruder hatte mir das hohnlachend im Lager erklärt: „Wir haben die Methoden eurer Kirche übernommen. Eure Inquisition mit ihren Folterkammern im Namen Gottes hat uns gelehrt, wie man Feinde des Glaubens behandeln muß. Wir sind sogar noch weniger scharf — wir verbrennen nur in seltenen Fällen lebendig." Ich hing damals an einem Kreuz, während er mir das erklärte — es war eine der harmloseren Arten, Namen von Häftlingen zu erpressen.

Der Priester am Altar hob die goldene Monstranz und segnete die Menge. Ich saß sehr still, aber mir war, als schwämme ich in einem lauen Bade von Rauch, Trost und Licht. Dann begann das letzte Lied: „In dieser Nacht sei du mein Schirm und Wacht..." Ich hatte es als Kind gesungen, und damals war das Dunkel der Nacht mir als Gefahr erschienen — jetzt war es das Licht.

Die Menge begann den Dom zu verlassen. Ich hatte noch fünfzehn Minuten zu warten und rutschte in eine Ecke, neben einen der großen Pfeiler, die das Gewölbe stützten.

Im gleichen Augenblick sah ich Helen. Ich sah sie zuerst als eine Art von Wirbel in den herausströmenden Menschen. Jemand erkämpfte dort einen Weg gegen die Richtung, schob Leute beiseite und glitt zwischen ihnen vorwärts. Ich sah für Sekunden ein helles, zorniges und entschlossenes Gesicht und glaubte einen Augenblick, es sei eine Frau, die etwas vergessen hatte. Ich erkannte sie nicht gleich, weil ich sie hier nicht erwartet hatte. Erst als sie ein Stück an mir vorbei war, wo die Menge sich lichtete, sah ich an einer Bewegung ihrer Schulter, mit der sie sich schräg vorwärts arbeitete, daß sie es war. Sie schien nirgendwo anzustoßen; sie glitt zwischen den Menschen hindurch, und gleich darauf stand sie fast frei in der breiten Mittelreihe vor den Kerzen und der blauen und roten Dunkelheit der hohen, romanischen Fenster, schmal und klein plötzlich und schon fast allein und verloren.

Ich war aufgestanden, um ihren Blick zu fangen. Zu winken wagte ich nicht. Es waren noch zu viele Leute da; in der Kirche hätte so etwas Aufsehen erregt. Sie lebt, war mein erster Gedanke. Sie ist nicht tot und nicht krank! Sonderbar, daß man das immer zuerst denkt in unserer Situation! Man ist so überrascht, daß etwas noch so ist wie früher — daß jemand noch da ist.

Sie ging weiter, rasch, zum Chor hinauf. Ich drängte mich aus meiner Bank und folgte ihr. Vor der Kommunionbank blieb sie stehen und drehte sich um. Sie musterte aufmerksam die Leute, die noch in den Bänken knieten, und kam langsam den Gang wieder zurück. Ich blieb stehen. Sie war so überzeugt, mich irgendwo in den Bänken zu finden, daß sie dicht an mir vorüberging und mich fast streifte. Ich folgte ihr. „Helen", sagte ich, als sie aufs neue stehenblieb, dicht hinter ihr. ,,Dreh dich nicht um! Geh hinaus! Ich werde dir folgen. Man darf uns hier nicht sehen."