»1939? In Frankreich?«
»Ja. Im Sommer vor dem Kriege. Ich begreife jetzt noch nicht, wie alles kam. Deshalb muß ich mit jemand darüber reden. Ich kenne niemand hier. Wenn ich mit jemand darüber rede, wird es noch einmal da sein. Es wird mir dann ganz klarwerden. Und es wird bleiben. Ich muß es nur noch einmal -«Er brach ab.
»Verstehen Sie?«fragte er nach einer Weile.
»Ja«, erwiderte ich und fügte behutsam hinzu:»Es ist nicht schwer zu verstehen, Herr Schwarz.«
»Es ist überhaupt nicht zu verstehen!«erwiderte er, plötzlich heftig und leidenschaftlich.»Sie liegt da unten in einem Zimmer, in dem die Fenster geschlossen sind, in einem scheußlichen Holzsarg, tot, und sie ist es nicht mehr! Wer kann das verstehen? Niemand! Sie nicht und ich nicht, und niemand, und wer sagt, er verstehe es, der lügt!«
Ich schwieg und wartete. Ich hatte schon öfter so mit jemand gesessen. Verluste waren schwerer durchzustehen, wenn man ohne eigenes Land war. Nichts stützte einen dann, und die Fremde wurde schrecklich fremd. Ich hatte es in der Schweiz erlebt, als ich die Nachricht erhielt, daß man meine Eltern in Deutschland im Konzentrationslager umgebracht und verbrannt hatte. Ich hatte immerfort an die Augen meiner Mutter im Feuer des Ofens denken müssen. Es verfolgte mich jetzt noch.
»Ich nehme an, Sie wissen, was der Emigrantenkoller ist«, sagte Schwarz ruhiger.
Ich nickte. Ein Kellner brachte eine Schüssel Garnelen. Ich fühlte plötzlich, daß ich sehr hungrig war, und erinnerte mich daran, daß ich seit mittags nichts gegessen hatte. Unschlüssig sah ich zu Schwarz hinüber.»Essen Sie nur«, sagte er.»Ich werde warten.«
Er bestellte Wein und Zigaretten. Ich aß rasch. Die Garnelen waren frisch und würzig.»Es tut mir leid«, sagte ich,»aber ich bin sehr hungrig.«
Ich beobachtete Schwarz, während ich aß. Er saß ruhig da und sah auf die theatralische Stadt hinunter, weder ungeduldig noch verärgert. Ich spürte etwas wie Zuneigung. Er schien mit den Geboten falschen Anstandes aufgeräumt zu haben und zu wissen, daß man hungrig sein und essen konnte, während neben einem jemand litt, ohne daß man deshalb gefühllos zu sein brauchte. Wenn man nichts für den andern tun konnte, war es ebensogut, sein Brot zu essen, wenn man hungrig war, bevor es einem weggenommen wurde. Man wußte nie, wann es einem weggenommen wurde.
Ich schob den Teller beiseite und nahm eine Zigarette. Ich hatte lange nicht geraucht. Ich hatte das Geld gespart, um heute etwas mehr zum Spielen zu haben.
»Ich bekam den Koller im Frühjahr 39«, sagte Schwarz.»Ich war über fünf Jahre in der Emigration gewesen. Wo waren Sie im Herbst 38?«
»In Paris.«
»Ich auch. Ich hatte damals aufgegeben. Es war die Zeit vor dem Münchner Pakt. Die Agonie der Angst. Ich versteckte und verteidigte mich zwar noch automatisch, aber ich hatte abgeschlossen. Es würde Krieg geben, und die Deutschen würden kommen und mich holen. Das war mein Schicksal. Ich hatte mich damit abgefunden.«
Ich nickte.»Es war die Zeit der Selbstmorde. Sonderbar, als die Deutschen eineinhalb Jahre später wirklich kamen, waren die Selbstmorde seltener.«
»Dann kam der Münchner Pakt«, sagte Schwarz.
»Das Leben wurde einem plötzlich neu geschenkt in diesem Herbst 38! Es war von einer solchen Leichtigkeit, daß man unvorsichtig wurde. Die Kastanien blühten sogar zum zweitenmal in Paris, erinnern Sie sich? Ich wurde so leichtsinnig, daß ich mich wie ein Mensch fühlte und mich leider auch so benahm. Die Polizei faßte mich und steckte mich wegen wiederholter unerlaubter Einreise für vier Wochen ein. Dann begann das alte Spieclass="underline" ich wurde bei Basel über die Grenze geschoben, von den Schweizern zurückgeschickt, von den Franzosen an einer anderen Stelle wieder hinübergebracht, eingesperrt – Sie kennen ja dieses Schachspiel mit Menschen -«
»Ich kenne es. Es war kein Spaß im Winter. Schweizer Gefängnisse waren die besten. Warm wie Hotels.«
Ich begann wieder zu essen. Unangenehme Erinnerungen hatten etwas Gutes: sie überzeugten einen, daß man glücklich war, wenn man eine Sekunde vorher noch geglaubt hat, es nicht zu sein. Glück ist eine Sache von Graden. Wer das beherrscht, ist selten ganz unglücklich. Ich war glücklich in Schweizer Gefängnissen gewesen, weil es keine deutschen waren. Aber vor mir saß ja ein Mann, der behauptete, das Glück gepachtet zu haben, obschon irgendwo in Lissabon ein Holzsarg in einem ungelüfteten Zimmer stand.
»Als man mich das letztemal freiließ, drohte man mir, daß man mich nach Deutschland abschieben müsse, wenn man mich noch einmal ohne Papiere erwische«, erklärte Schwarz.»Es war nur eine Drohung; aber sie erschreckte mich. Ich fing an nachzudenken, was ich tun müßte, wenn es wirklich geschähe. Dann begann ich nachts zu träumen, ich wäre drüben und die SS wäre hinter mir her. Ich träumte es so oft, daß ich mich schließlich fürchtete, einzuschlafen. Kennen Sie das auch?«
»Ich könnte eine Doktorarbeit darüber schreiben«, erwiderte ich.»Leider.«
»Eines Nachts träumte ich, daß ich in Osnabrück wäre, der Stadt, wo ich gelebt hatte und wo meine Frau noch wohnte. Ich stand in ihrem Zimmer und sah, daß sie krank war. Sie war sehr mager und weinte. Ich wachte verstört auf. Ich hatte sie über fünf Jahre nicht gesehen und nichts von ihr gehört. Ich hatte ihr auch nie geschrieben, weil ich nicht wußte, ob ihre Post überwacht würde. Vor der Flucht hatte sie mir versprochen, sich von mir scheiden zu lassen. Es sollte ihr Schwierigkeiten ersparen. Einige Jahre glaubte ich auch, sie hätte es getan.«
Schwarz schwieg eine Weile. Ich fragte ihn nicht, weshalb er Deutschland verlassen hatte. Es gab dafür genug Gründe. Keiner von ihnen war interessant, denn jeder war ungerecht. Ein Opfer zu sein, ist nicht interessant. Er war entweder Jude, oder er hatte einer politischen Partei angehört, die dem bestehenden Regime feindlich war, oder er hatte Feinde, die plötzlich einflußreich geworden waren – es gab Dutzende von Gründen, um in Deutschland in ein Konzentrationslager gesteckt oder totgeschlagen zu werden.
»Es gelang mir, wieder nach Paris zu kommen«, sagte Schwarz.»Aber der Traum verließ mich nicht. Er kam wieder. Um dieselbe Zeit zerbrach auch die Illusion des Münchner Paktes. Im Frühjahr wußte man, daß es bestimmt Krieg geben würde. Man roch ihn, wie man einen Brand riecht, lange bevor man ihn sieht. Nur die Diplomatie der Welt hielt sich hilflos die Augen zu und träumte Wunschträume – von einem zweiten und dritten München, von allem, aber nur keinem Krieg. Nie hat es so viel Glauben an Wunder gegeben, wie in unserer Zeit, wo es keine mehr gibt.«
»Es gibt noch welche«, erwiderte ich.»Sonst wären wir alle nicht mehr am Leben.«
Schwarz nickte.»Sie haben recht. Private Wunder. Ich habe selbst eines erlebt. Es begann in Paris. Ich erbte plötzlich einen gültigen Paß. Es ist der Paß, der auf den Namen Schwarz lautet. Er gehörte einem Österreicher, mit dem ich im Café de la Rose bekannt geworden war. Der Mann starb und hinterließ mir den Paß und sein Geld. Er war erst vor drei Monaten angekommen. Ich hatte ihn im Louvre kennengelernt – vor den Bildern der Impressionisten. Ich verbrachte damals viele Nachmittage dort, um mich zu beruhigen. Wenn man vor diesen sonnegetränkten, stillen Landschaften stand, glaubte man nicht, daß eine Tierrasse, die so etwas schaffen konnte, gleichzeitig einen mörderischen Krieg vorhaben könne – eine Illusion, die den Blutdruck für eine Stunde etwas senkte.
Der Mann mit dem Paß auf den Namen Schwarz saß oft vor den Seerosen- und Kathedralenbildern von Monet. Wir kamen ins Gespräch, und er erzählte mir, daß es ihm gelungen sei, nach der Machtergreifung in Österreich freizukommen und das Land zu verlassen, indem er auf sein Vermögen verzichtete. Es hatte aus einer Sammlung von Impressionisten bestanden, die an den Staat gefallen war. Er bedauerte es nicht. Solange in Museen Bilder ausgestellt wären, könne er sie wie seine eigenen betrachten, sagte er, ohne die Sorge um Feuer und Diebstahl zu haben. Außerdem wären in den Museen in Frankreich viel bessere Bilder als er je besessen hätte. Anstatt an seine eigene limitierte Sammlung gekettet zu sein wie ein Vater an seine Familie, mit der Verpflichtung, die Seinen zu bevorzugen und dadurch beeinflußt zu werden, gehörten ihm nun alle Bilder in öffentlichen Sammlungen, ohne daß er dafür etwas tun müsse. Er war ein sonderbarer Mann, still, sanft und heiter, trotz allem, was hinter ihm lag. Er hatte fast kein Geld mitnehmen dürfen; aber er hatte eine Anzahl alter Briefmarken gerettet. Briefmarken sind das Kleinste, um es zu verstecken, besser als Diamanten. Auf Diamanten kann man schlecht gehen, wenn man sie in den Schuhen versteckt hat und zum Verhör geführt wird. Sie sind auch nicht ohne große Verluste und viele Fragen zu verkaufen. Briefmarken sind für Sammler. Sammler fragen nicht viel.«