»Wie hat er sie herausbekommen?«fragte ich, mit dem professionellen Interesse jedes Emigranten.
»Er hat alte, belanglose, geöffnete Briefe mitgenommen und die Marken zwischen das Futter und den Umschlag gesteckt. Die Zollbeamten revidierten die Briefe; nicht die Umschläge.«
»Gut«, sagte ich.
»Er hatte außerdem noch zwei kleine Porträts von Ingres mitgenommen. Bleistiftzeichnungen. Er hatte sie in breite Passepartouts und geschmacklose Talmirahmen gesteckt und behauptet, es seien Porträts seiner Eltern. Hinter die Passepartouts hatte er zwei Degaszeichnungen so geklebt, daß sie nicht zu sehen waren.«
»Gut«, sagte ich wieder.
»Er bekam einen Herzanfall im April und gab mir seinen Paß, die Marken, die er noch hatte, und die Zeichnungen. Er gab mir auch die Adressen von Leuten, die die Marken kaufen würden. Als ich am nächsten Morgen nach ihm sah, lag er tot in seinem Bett, und ich erkannte ihn kaum, so verändert hatte die Stille ihn. Ich nahm das Geld, das er noch besaß, und einen Anzug und etwas Wäsche mit mir. Er hatte mir am Tage vorher gesagt, es zu tun; es sei besser, Schicksalsgenossen bekämen es, als der Wirt.«
»Sie haben den Paß geändert?«fragte ich.
»Nur das Foto und das Geburtsjahr. Schwarz war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Unsere Vornamen waren gleich.«
»Wer hat das gemacht? Brünner?«
»Jemand aus München.«
»Das war Brünner, der Paßdoktor. Er war sehr tüchtig.«
Brünner war bekannt gewesen für seine guten Korrekturen. Er hatte manchem geholfen, besaß aber selbst keinen Ausweis, als er gefaßt wurde, weil er abergläubisch war; er glaubte, er sei ehrlich und ein Wohltäter, und ihm würde nichts passieren, solange er seine Kunst nicht für sich selbst benützte. Vor der Emigration hatte er eine kleine Druckerei in München gehabt.
»Wo ist er jetzt?«fragte ich.
»Ist er nicht in Lissabon?«
Ich wußte es nicht. Aber es war möglich, wenn er noch lebte.
»Es war merkwürdig, als ich den Paß hatte«, sagte Schwarz II.»Ich getraute mich nicht, ihn zu benutzen. Es dauerte ohnehin ein paar Tage, ehe ich mich an den neuen Namen gewöhnte. Ich sagte ihn mir immerfort vor. Ich ging über die Champs-Elysées und murmelte meinen Namen und meine neuen Geburtsdaten. Ich saß im Museum vor den Renoirs und flüsterte, wenn ich allein war, einen imaginären Dialog; – mit scharfer Stimme: ›Schwarz!‹ -, um sofort aufzuspringen und zu antworten: ›Das bin ich!‹ -, oder ich schnarrte: ›Name!‹, um sofort automatisch daherzuleiern: ›Josef Schwarz, geboren in Wiener Neustadt am 22. Juni 1898‹. Sogar abends vor dem Schlafengehen trainierte ich. Ich wollte nicht irgendwann von einem Polizisten nachts aufgeweckt werden und im Halbschlaf das Falsche sagen. Ich wollte meinen früheren Namen vergessen. Es war ein Unterschied, keinen Paß oder einen falschen zu haben. Der falsche war gefährlicher.
Ich verkaufte die beiden Ingreszeichnungen. Man gab mir weniger dafür, als ich erwartet hatte, aber ich besaß auf einmal Geld, mehr Geld, als ich lange Zeit gesehen hatte.
Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, der mich danach nicht mehr losließ. Konnte ich nicht mit diesem Paß nach Deutschland reisen? Er war fast gültig, und warum sollte jemand Verdacht an der Grenze schöpfen? Ich konnte dann meine Frau wiedersehen. Ich konnte die Angst um sie zum Schweigen bringen. Ich konnte -«
Schwarz sah mich an.»Sie kennen das ja sicher! Den Emigrantenkoller in seiner reinsten Form. Den Krampf im Magen, in der Kehle und hinter den Augen. Das, was man fünf Jahre hindurch in die Erde gestampft, zu vergessen gesucht, gemieden hat wie einen Cholerakranken, steht wieder auf: die tödliche Erinnerung, der Krebs der Seele für den Emigranten!
Ich versuchte mich zu befreien. Ich ging wie früher zu den Bildern des Friedens und der Stille, zu den Sisleys und Pissaros und Renoirs, ich saß stundenlang im Museum – aber jetzt war die Wirkung umgekehrt. Die Bilder beruhigten mich nicht mehr – sie begannen zu rufen, zu fordern, zu erinnern – an ein Land, noch nicht verwüstet von dem braunen Aussatz, an Abende in Gassen, über deren Mauern Flieder hing, an die goldene Dämmerung der alten Stadt, an ihre schwalbenumflogenen, grünen Kirchtürme – und an meine Frau.
Ich bin ein mittelmäßiger Mensch und habe keine besonderen Eigenschaften. Ich hatte mit meiner Frau vier Jahre gelebt, wie man zu leben pflegte: ohne Schwierigkeiten, angenehm, aber auch ohne große Passion. Nach den ersten Monaten war unser Verhältnis das geworden, was man eine gute Ehe nennt – eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die akzeptieren, daß Rücksicht aufeinander die Grundlage für ein behagliches Zusammensein ist. Wir vermißten die Träume nicht. So wenigstens schien es mir. Wir waren vernünftige Menschen. Wir hatten uns herzlich gern.
Jetzt verschob sich alles. Ich begann mich anzuklagen, eine so mittelmäßige Ehe geführt zu haben. Ich hatte alles versäumt. Wozu hatte ich gelebt? Was tat ich jetzt? Ich verkroch mich und vegetierte. Wie lange würde es noch dauern? Und wie würde es enden? Der Krieg würde kommen, und Deutschland mußte siegen. Es war das einzige Land, das voll bewaffnet war. Was würde dann passieren? Wohin konnte ich kriechen, wenn ich noch Zeit und Atem hatte? In welchem Lager würde ich verhungern? An welcher Mauer durch einen Genickschuß umgelegt werden, wenn ich Glück hatte?
Der Paß, der mir hätte Ruhe geben sollen, trieb mich zur Verzweiflung. Ich lief auf den Straßen umher, bis ich so müde war, daß ich fast umfiel; aber ich konnte nicht schlafen, und wenn ich schlief, weckten mich die Träume wieder auf. Ich sah meine Frau in einem Gestapokeller; ich hörte sie vom Hinterhof des Hotels um Hilfe rufen; und eines Tages, als ich ins Café de la Rose eintrat, glaubte ich, im Spiegel, der schräg gegenüber der Tür hängt, ihr Gesicht zu sehen, das sich mir flüchtig zuwandte – bleich, mit trostlosen Augen – und dann wegglitt. Es war so deutlich, daß ich annahm, sie sei da, und rasch in den hinteren Raum lief. Das Zimmer war, wie immer, voll von Menschen, aber sie war nicht darunter.
Einige Tage lang war das dann eine fixe Idee: daß sie herübergekommen sei und mich suche. Ich sah sie hundertmal um eine Ecke gehen, sie saß auf den Bänken des Luxembourg-Gartens, und wenn ich hinzukam, hob sich ein erstauntes fremdes Gesicht mir entgegen; sie kreuzte die Place de la Concorde, gerade bevor der Strom der Automobile wieder einsetzte, und diesmal war sie es wirklich – es war ihr Gang, die Art, wie sie ihre Schultern hielt, ich glaubte sogar, ihr Kleid zu erkennen, aber wenn der Verkehrspolizist endlich die Autoschlange stoppte und ich ihr nacheilen konnte, war sie verschwunden, eingeschluckt in den schwarzen Schlund der Untergrundbahn – und wenn ich dort unten auf dem Bahnsteig ankam, sah ich gerade noch die höhnischen Schlußlichter des abfahrenden Zuges in der Dunkelheit.
Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau gewesen.
Er riet mir, weniger allein zu sein. ›Finden Sie eine Frau‹, sagte er. Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper – das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören – aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen läßt mit dem schalen Geschmack, daß man sich mißbraucht hat?