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»Du meinst, Edgar hat einfach die Konsequenz der Sache gescheut und ist deshalb weg?«

»Ja. Was sonst?«

Ich will mal sagen: Besonders scharf war ich auf das Nachspiel nicht. »Was sagt der Jugendfreund Edgar Wiebau (!) zu seinem Verhalten zu Meister Flemming?« Leute! Ich hätt mir doch lieber sonstwas abgebissen, als irgendwas zu sülzen von: Ich sehe ein… Ich werde in Zukunft…, verpflichte mich hiermit… und so weiter! Ich hatte was gegen Selbstkritik, ich meine: gegen öffentliche. Das ist irgendwie entwürdigend. Ich weiß nicht, ob mich einer versteht. Ich finde, man muß dem Menschen seinen Stolz lassen. Genauso mit diesem Vorbild. Alle forzlang kommt doch einer und will hören, ob man ein Vorbild hat und welches, oder man muß in der Woche drei Aufsätze darüber schreiben. Kann schon sein, ich hab eins, aber ich stell mich doch nicht auf den Markt damit. Einmal hab ich geschrieben: Mein größtes Vorbild ist Edgar Wibeau. Ich möchte so werden, wie er mal wird. Mehr nicht. Das heißt: Ich wollte es schreiben. Ich hab's dann bleibenlassen, Leute. Dabei wäre der Aufsatz höchstens nicht gewertet worden. Kein Aas von Lehrer traute sich doch, mir eine Fünf oder was zu geben.

»Kannst du dich an sonst noch was erinnern?«

»An einen Streit natürlich? — Wir haben uns nie gestritten. Doch, einmal schmiß er sich vor Wut die Treppen runter, weil ich ihn irgendwohin nicht mitnehmen wollte. Da war er fünf, wenn du das meinst. — Trotzdem wird alles wohl meine Schuld sein.«

Das ist großer Quatsch! Hier hat niemand schuld, nur ich. Das wolln wir mal festhalten! — Edgar Wibeau hat die Lehre geschmissen und ist von zu Hause weg, weil er das schon lange vorhatte. Er hat sich in Berlin als Anstreicher durchgeschlagen, hat seinen Spaß gehabt, hat Charlotte gehabt und hat beinah eine große Erfindung gemacht, weil er das so wollte!

Daß ich dabei über den Jordan ging, ist echter Mist. Aber wenn das einen tröstet: Ich hab nicht viel gemerkt. 380 Volt sind kein Scherz, Leute. Es ging ganz schnell. Ansonsten ist Bedauern jenseits des Jordan nicht üblich. Wir alle hier wissen, was uns blüht. Daß wir aufhören zu existieren, wenn ihr aufhört, an uns zu denken. Meine Chancen sind da wohl mau. Bin zu jung gewesen.

»Mein Name ist Wibeau.«

»Angenehm. — Lindner, Willi.«

Salute, Willi! Du warst zeitlebens mein bester Kumpel, tu mir jetzt einen Gefallen. Fang nicht auch an, in deiner Seele oder wo nach Schuld zu wühlen und so. Reiß dich zusammen.

»Es soll Tonbänder von Edgar geben, die er besprochen hat? Sind sie greifbar? Ich meine, kann ich sie hören?

Gelegentlich?«

»Ja. Das geht.«

Die Tonbänder:

kurz und gut / wilhelm / ich habe eine bekanntschaft gemacht / die mein herz näher angeht — einen engel — und doch bin ich nicht imstande / dir zu sagen / wie sie vollkommen ist / warum sie vollkommen ist / genug / sie hat allen meinen sinn gefangengenommen — ende nein / ich betrüge mich nicht — ich lese in ihren schwarzen augen wahre teilnehmung an mir und meinem schicksal — sie ist mir heilig — alle begier schweigt in ihrer gegenwart — ende

genug / wilhelm / der bräutigam ist da — glücklicherweise war ich nicht beim empfange — das hätte mir das herz zerrissen — ende

er will mir wohl / und ich vermute / das ist lottens werk / denn darin sind die weiber fein und haben recht / wenn sie zwei Verehrer in gutem vernehmen miteinander erhalten können / ist der vorteil immer ihr / so selten es auch angeht — ende

das war eine nacht — wilhelm / nun überstehe ich alles — ich werde sie nicht wiedersehn — hier sitz ich und schnappe nach luft / suche mich zu beruhigen / erwarte den morgen / und mit Sonnenaufgang sind die pferde

o meine freunde / warum der strom des genies so selten ausbricht / so selten in hohen fluten hereinbraust und eure staunende seele erschüttert — liebe freunde / da wohnen die gelassenen herren auf beiden seiten des ufers / denen ihre gartenhäuschen / tulpenbeete und krautfelder zugrunde gehen würden / die daher in Zeiten mit dämmen und ableiten der künftig drohenden gefahr abzuwenden wissen — das alles / wilhelm / macht mich stumm — ich kehre in mich selbst zurück und finde eine weit — ende.

und daran seid ihr alle schuld / die ihr mich in das joch geschwatzt und mir so viel von aktivität vorgesungen habt — aktivität — ich habe meine entlassung verlangt — bringe das meiner mutter in einem säftchen bei — ende

»Verstehn Sie's?«

»Nein. Nichts…«

Könnt ihr auch nicht. Kann keiner, nehme ich an. Ich hatte das aus dieser alten Schwarte oder Heft. Reclamheft. Ich kann nicht mal sagen, wie es hieß. Das olle Titelblatt ging flöten auf dem ollen Klo von Willis Laube. Das ganze Ding war in diesem unmöglichen Stil geschrieben.

»Ich denke manchmal — ein Code.«

»Für einen Code hat es zuviel Sinn.

Ausgedacht hört es sich auch wieder nicht an.«

»Bei Ed wußte man nie. Der dachte sich noch ganz andere Sachen aus. Ganze Songs zum Beispiel. Text und Melodie! Irgendein Instrument, das er nach zwei Tagen nicht spielen konnte, gab's überhaupt nicht. Oder nach einer Woche, von mir aus. Er konnte Rechenmaschinen aus Pappe baun, die funktionieren heute noch. Aber die meiste Zeit haben wir gemalt.«

»Edgar hat gemalt? — Was waren das für Bilder?«

»Immer DIN A 2.«

»Ich meine: was für Motive? Oder kann man welche sehen?«

»Nicht möglich. Die hatte er alle bei sich. Und ›Motive‹ kann man nicht sagen. Wir malten durchweg abstrakt. Eins hieß Physik. Und: Chemie. Oder: Hirn eines Mathematikers. Bloß, seine Mutter war dagegen. Ed sollte erst einen ›ordentlichen Beruf‹ haben. Ed hatte ziemlich viel Ärger deswegen, wenn Sie das interessiert. Aber am sauersten war er immer, wenn er rauskriegte, daß sie, also seine Mutter, mal wieder eine Karte von seinem Erzeuger…, ich meine: von seinem Vater…, ich meine: von Ihnen zurückgehalten hatte. Das kam hin und wieder vor. Dann war er immer ungeheuer sauer.«

Das stimmt. Das stank mich immer fast gar nicht an. Schließlich gab es immer noch so was wie ein Briefgeheimnis, und die Karten waren eindeutig an mich. An Herrn Edgar Wibeau, den ollen Hugenotten. Jeder Blöde hätte gemerkt, daß ich eben nichts wissen sollte über meinen Erzeuger, diesen Schlamper, der soff und der es ewig mit Weibern hatte. Der schwarze Mann von Mittenberg. Der mit seiner Malerei, die kein Mensch verstand, was natürlich allemal an der Malerei lag.

»Und deswegen ging Edgar weg, glauben Sie?«

»Ich weiß nicht… Jedenfalls, was die meisten denken, Ed ging weg wegen dieser Sache mit Flemming, das ist Quatsch. Warum er das gemacht hat, versteh ich zwar auch nicht. Ed hatte nichts auszustehen. Er war Chef in allen Fächern, ohne zu pauken. Und er hielt sich sonst immer aus allem raus. Ärger gab es bei uns öfter. Viele sagten: Muttersöhnchen. Natürlich nicht öffentlich. Ed war ein kleiner Stier. Oder er hätte es überhört. Beispielsweise das mit den Miniröcken. Die Weiber, ich meine: die Mädchen aus unserer Klasse, sie konnten es nicht bleibenlassen, in diesen Miniröcken in der Werkstatt aufzukreuzen, zur Arbeit. Um den Ausbildern was zu zeigen. X-mal hatten sie das schon verboten. Das stank uns dann so an, daß wir mal, alle Jungs, eines Morgens in Miniröcken zur Arbeit antraten. Das war eine ziemliche Superschau. Ed hielt sich da raus. Das war ihm wohl auch zu albern.«