»Wohnt hier im Haus eine Familie Schmidt?«
»Zu wem wollen Sie da?«
»Zu Frau Schmidt.«
»Das bin ich. Da haben Sie Glück.«
»Ja. Mein Name ist Wibeau. Der Vater von Edgar.«
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Das war nicht ganz einfach.«
»Ich meine: Woher wußten Sie von mir?«
»Durch die Tonbänder. Edgar hat Tonbänder nach Mittenberg geschickt, wie Briefe.«
»Davon wußte ich nichts. Und da ist was von mir drauf?«
»Wenig. Daß sie Charlotte heißen und verheiratet sind. Und daß sie schwarze Augen haben.«
Bleib ruhig, Charlie. Ich hab nichts gesagt. Kein Wort.
»Wieso Charlotte? Ich heiß doch nicht Charlotte!«
»Ich weiß nicht. Warum weinen Sie? Weinen Sie doch nicht.«
Heul doch nicht, Charlie. Laß den Quatsch. Das ist doch kein Grund zum Heulen. Ich hatte den Namen aus dem blöden Buch.
»Entschuldigen Sie! Edgar war ein Idiot. Edgar war ein verbohrter, vernagelter Idiot. Ihm war nicht zu helfen. Entschuldigen Sie!«
Das stimmt. Ich war ein Idiot. Mann, war ich ein Idiot. Aber hör auf zu heulen. Ich glaube, keiner kann sich vorstellen, was ich für ein Idiot war.
»Ich war eigentlich gekommen, weil Sie vielleicht ein Bild haben, das er gemacht hat.«
»Edgar konnte überhaupt nicht malen. Das war auch so eine Idiotie von ihm. Jeder sah das, aber er ließ sich das nicht beweisen. Und wenn man es ihm auf den Kopf zusagte, faselte er irgendwelches Zeug, aus dem keiner schlau wurde. Wahrscheinlich nicht mal er selbst.«
So fand ich dich immer am besten, Charlie, wenn du so in Fahrt warst. Aber daß jeder gleich gesehen hat, daß ich nicht malen konnte, ist trotzdem nicht ganz korrekt. Ich meine, er hat es vielleicht gesehen, aber ich hatte es hervorragend drauf, so zu tun, als wenn ich könnte. Das ist überhaupt eine der schärfsten Sachen, Leute. Es kommt nicht so drauf an, daß man etwas kann, man muß es draufhaben, so zu tun. Dann läuft es. Jedenfalls bei Malerei und Kunst und diesem Zeug. Eine Zange ist gut, wenn sie kneift. Aber ein Bild oder was? Kein Aas weiß doch wirklich, ob eins gut ist oder nicht.
»Das fing gleich am ersten Tag an. Unser Kindergarten hatte in der Laubenkolonie einen Auslauf, wie wir sagen, mit Buddelkasten, Schaukel und Wippe. Im Sommer waren wir da den ganzen Tag draußen, wenn's ging. Jetzt ist da alles aufgerissen. Die Kinder stürzten sich immer förmlich in den Buddelkasten und auf das Klettergerüst in die Büsche. Die gehörten zwar zum Nachbargrundstück, aber das gehörte praktisch uns. Der Zaun stand lange nicht mehr, und wir hatten da lange keinen Menschen mehr gesehen. Die ganze Kolonie war ja auf Abriß. Plötzlich sah ich da einen Menschen aus der Laube kommen, einen Kerl, ungekämmt und völlig vergammelt. Ich rief die Kinder sofort zu mir.«
Das war ich. Leute, war ich vertrieft. Ich war ganz hervorragend vertrieft. Ich sah nichts. Ich triefte auf mein Plumpsklo und von da zu der Pumpe. Aber ich konnte das Pumpenwasser einfach nicht anfassen. Ich hätte einen Trocknen machen können in jeden See. Aber das Pumpenwasser hätte mich getötet. Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Ich war einfach zu früh wach geworden. Charlies Gören hatten mich wachgebrüllt.
»Das war Edgar?«
»Das war Edgar. Ich verbot den Kindern sofort, wieder auf das Grundstück zu gehen. Aber wie sie so sind — fünf Minuten später waren sie alle weg. Ich rief sie, und dann sah ich: Sie waren drüben, bei Edgar. Edgar saß hinter seiner Laube mit Malzeug und sie hinter ihm, völlig still.«
Das stimmt. Ich war zwar nie ein großer Kinderfreund. Ich hatte nichts gegen Kinder, aber ich war nie ein großer Kinderfreund. Sie konnten einen anöden auf die Dauer, jedenfalls mich, oder Männer überhaupt. Oder hat schon mal einer was von einem Kindergärtner gehört? Bloß es stank mich immer fast gar nicht an, wenn einer gleich ein Wüstling oder Sittenstrolch sein sollte, weil er lange Haare hatte, keine Bügelfalten, nicht schon um fünf aufstand und sich nicht gleich mit Pumpenwasser kalt abseifte und nicht wußte, in welcher Lohngruppe er mit fünfzig sein würde. Folglich fischte ich mir mein Malzeug und fläzte mich hinter meine Laube und fing an, mit dem Bleistift allerhand Abstände anzupeilen, wie Maler das angeblich machen. Und fünf Minuten später waren Charlies Gören vollzählig hinter mir versammelt.
»Was malte er?«
»Eigentlich nichts. Striche. Die Kinder wollten das auch wissen.
Edgar sagte: Mal sehn. Vielleicht 'n Baum? Da kam sofort: Wieso vielleicht? Weißt du denn nicht, was du malst?
Und Edgar: Es kommt ganz drauf an, was heute morgen hier so drin ist. Kann man's wissen? Ein Maler muß sich erst locker malen, sonst wird der Baum zu steif, den er gerade malen will.
Sie amüsierten sich. Edgar konnte mit Kindern umgehen, aber zeichnen konnte er nicht, das sah ich sofort. Ich interessiere mich ein bißchen dafür.«
Stop mal, Charlie! Sie amüsierten sich, aber dieser Witz mit dem Baum war von dir. Ich dachte noch: So ist es immer. Einer amüsiert sich, und dann kommen diese Kindergärtnerinnen und geben eine ernste Erklärung. Dann drehte ich mich um und sah dich an. Ich dachte, mich streift ein Bus. Ich hatte dich unterschätzt. Da war glatt Ironie dabei! — Ich glaube, in dem Moment hat das Ganze angefangen, dieses Tauziehen oder was es war. Jeder wollte den anderen über den Strich ziehen. Charlie wollte mir beweisen, daß ich kein Stück malen konnte, sondern daß ich bloß ein großes Kind war, nicht so leben konnte und daß mir folglich geholfen werden mußte. Und ich wollte ihr das Gegenteil beweisen. Daß ich ein verkanntes Genie war, daß ich sehr gut so leben konnte, daß mir keiner zu helfen brauchte, und vor allem, daß ich alles andere als ein Kind war. Außerdem wollte ich sie von Anfang an haben. Rumkriegen sowieso, aber auch haben. Ich weiß nicht, ob mich einer versteht, Leute.
»Sie meinen, er konnte nicht nach der Natur zeichnen? Nicht abzeichnen?«
»Er konnte überhaupt nicht zeichnen. Warum er so tat, war auch klar: man sollte ihn für ein verkanntes Genie halten. Bloß warum das, das hab ich nie begriffen. Das war wie eine fixe Idee von ihm. Ich kam auf den Gedanken, ihn in unseren Kindergarten zu bringen und ihn dort eine Wand bemalen zu lassen. Zu verderben war nichts daran. Unser Haus stand auf Abriß. Meine Chefin hatte nichts dagegen. Ich dachte, Edgar würde sich drücken. Er kam aber. Bloß, er war ja so gerissen! Entschuldigen Sie, aber er war wirklich gerissen! Er drückte den Kindern einfach in die Hand, was an Pinsein da war, und ließ sie mit ihm zusammen malen, wozu sie Lust hatten. Ich wußte sofort, was kam. In einer halben Stunde hatten wir das schönste Fresko an der Wand. Und Edgar hatte nicht einen Strich gemacht, jedenfalls so gut wie.«
Das Ding lief großartig, ich wußte das. Ich wußte, daß kaum was passieren konnte. Kinder können einen ungeheuer anöden, aber malen können sie, daß man kaputtgeht. Wenn ich mir schon Bilder ansah, dann bin ich lieber in einen Kindergarten gegangen als in ein olles Museum. Außerdem schmieren sie sowieso gern Wände voll.