»Ja.« Sonea nickte.
»Aber er ist ein Mann.«
»Nun ja… er hat mich unterrichtet. Ist das der Grund, warum du einen weiblichen Lehrer bekommen hast? Muss es eine Frau sein, die dich unterrichtet?«
»Natürlich.« Die junge Elynerin starrte sie voller Entsetzen an.
Sonea schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Mir ist nicht klar, welchen Unterschied es macht, ob man von einem weiblichen oder einem männlichen Magier unterrichtet wird. Vielleicht…« Sie brach ratlos ab. »Wenn ich all meine geheimen Gedanken nicht hätte verbergen können, wäre es wahrscheinlich besser gewesen, von einer Frau unterrichtet zu werden.«
Das Mädchen hatte sich ein wenig weiter von Sonea zurückgezogen. »Es schickt sich nicht für ein Mädchen unseres Alters, seine Gedanken mit einem Mann zu teilen.«
Sonea zuckte die Achseln. »Es sind doch nur Gedanken. Es funktioniert genauso wie das Reden, nur schneller. Es ist auch nicht Unrecht, mit einem Mann zu reden, oder?«
»Nein…«
»Und über gewisse Dinge schweigt man dann einfach lieber.« Sonea warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.
Langsam breitete sich ein Lächeln auf den Zügen des Mädchens aus. »Ja… es sei denn bei besonderen Gelegenheiten, vermutlich.«
»Issle.« Eine scharfe Stimme erklang, und sofort legte sich der Lärm im Raum. In der Tür stand eine nicht mehr ganz junge Frau in grünen Roben.
»Du hast dich lange genug ausgeruht. Komm mit mir.«
»Ja, Mylady«, seufzte das Mädchen.
»Viel Glück«, murmelte Sonea. Sie war sich nicht sicher, ob Issle sie gehört hatte, da das Mädchen durch die Tür verschwunden war, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
Sonea betrachtete das Buch in ihren Händen und gestattete sich ein schwaches Lächeln. Es war ein Anfang. Später würde sie vielleicht noch einmal Gelegenheit haben, mit Issle zu reden.
Schließlich kehrte sie an ihr Pult zurück und setzte ihre Lektüre fort.
Projektion:
Man kann einen Gegenstand schneller und leichter bewegen, wenn man ihn vor Augen hat. Einen Gegenstand außerhalb des eigenen Blickfelds kann man bewegen, indem man zuerst den Geist danach ausstreckt. Dies kostet jedoch mehr Zeit und Mühe, und…
Gelangweilt begann Sonea, das Kommen und Gehen der anderen Novizen zu beobachten. Sie lauschte auf ihre Namen und versuchte zu erraten, wie sie wohl sein mochten. Shern, der kyralische Junge mit den dunklen Schatten unter den Augen, war zusammengezuckt, als sein Lehrer zurückgekommen war und seinen Namen gerufen hatte. Er hatte den Magier mit gehetztem Blick angesehen, und als er seinen Stuhl zurückgeschoben hatte und zur Tür geschlendert war, hatte jede seiner Bewegungen Widerstreben verraten.
Regin hatte sich mit zwei Jungen angefreundet, Kano und Vallon. Die schüchterne Kyralierin verfolgte aufmerksam ihr Gespräch, und der Junge aus Elyne zeichnete kleine Bilder in ein in Papier eingeschlagenes Buch. Als Issle zurückkehrte, ließ sie sich kraftlos auf ihren Stuhl sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Sonea hatte auch andere Novizen über Kopfschmerzen klagen hören und beschloss, das Mädchen in Ruhe zu lassen.
Als der Gong die Mittagspause ankündigte, stieß Sonea einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte bisher lediglich Lektionen gelesen, die sie bereits kannte, und das Verhalten der anderen Novizen hatte sie überdies vom Lernen abgelenkt. Es war kein besonders interessanter Unterricht gewesen.
Lord Elben kam mit langen Schritten in den Raum, und die Novizen huschten eilig zu ihren Plätzen zurück, die sie mit dem Gong verlassen hatten. Er wartete, bis alle saßen, dann räusperte er sich.
»Wir werden morgen um die gleiche Zeit den Kontrollunterricht fortsetzen«, erklärte er. »Heute Nachmittag werdet ihr euch mit der Geschichte der Gilde befassen. Euer Lehrer erwartet euch im zweiten Geschichtsraum im oberen Stockwerk. Ihr dürft jetzt gehen.«
Die Erleichterung der übrigen Novizen war deutlich zu spüren. Sie erhoben sich, verbeugten sich vor dem Lehrer und verließen einer nach dem anderen den Raum. Sonea blieb ein wenig zurück und bemerkte dabei, dass der Junge aus Elyne sich Regins Gruppe angeschlossen hatte. Sie gab dem Lehrer sein Buch zurück, dann beschleunigte sie ihren Schritt, um Issle einzuholen. »War es beim zweiten Mal besser?«
Das Mädchen sah Sonea an und nickte. »Ich habe getan, was du gesagt hast. Es hat zwar noch nicht funktioniert, aber ich denke, beim nächsten Mal werde ich es vielleicht schaffen.«
»Das freut mich. Danach wird alles einfacher.«
Schweigend gingen sie einige Schritte nebeneinander her. Sonea überlegte, wie sie wohl ein Gespräch in Gang bringen könnte.
»Du bist Issle aus der Familie Fonden, nicht wahr?«, erklang plötzlich eine Stimme.
Issle drehte sich um und blieb stehen, als Regin und die beiden anderen Novizen auf sie zukamen.
»Ja«, sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln.
»Und dein Vater gehört zu den Ratgebern König Marends?«, fragte Regin mit hochgezogenen Augenbrauen weiter.
»Das ist richtig.«
»Ich bin Regin aus der Familie Winar.« Er verneigte sich mit übertriebener Höflichkeit. »Aus dem Haus Paren. Darf ich dich in den Speisesaal begleiten?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Das wäre mir eine Ehre.«
»Nein«, widersprach Regin mit dick aufgetragener Freundlichkeit. »Ich wäre derjenige, dem deine Begleitung eine Ehre wäre.«
Er schob sich zwischen Sonea und Issle, so dass Sonea nichts anderes übrig blieb, als einen Schritt zurückzuweichen, und griff nach dem Arm des Mädchens. Regins neue Freunde schlossen sich den beiden an, und gemeinsam gingen sie den Korridor hinunter. Niemand beachtete Sonea, die das Schlusslicht der Gruppe bildete. Als sie am Fuß der Universitätstreppe angelangt waren, blieb sie stehen und sah den anderen nach.
Issle hatte sich nicht einmal bei ihr bedankt. Ich sollte eigentlich nicht überrascht sein, dachte sie. Sie sind allesamt reiche Bälger ohne Manieren.
Nein, tadelte sie sich. Sei nicht ungerecht. Wenn man mich gebeten hätte, einen von ihnen in Harrins Bande zu akzeptieren, wäre es auch nicht einfach gewesen. Irgendwann werden sie schon vergessen, dass ich anders bin als sie. Sie brauchen nur Zeit.
3
Geschichten
Während Rothens Dienerin Tania den Tisch für die Morgenmahlzeit deckte, ließ Sonea sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl fallen. Rothen blickte auf, und als er ihren resignierten, unglücklichen Gesichtsausdruck sah, wünschte er, er hätte am vergangenen Tag direkt von seinen Kursen in sein Quartier zurückkehren können, statt erst noch mit Lord Peakin stundenlang über den Unterricht der nächsten Monate reden zu müssen.
»Wie war es gestern denn so?«, fragte er.
Sonea zögerte mit ihrer Antwort. »Keiner der Novizen ist bisher in der Lage, Magie zu benutzen. Sie müssen alle erst noch lernen, ihre Kräfte zu kontrollieren. Lord Elben hat mir ein Buch zu lesen gegeben.«
»Bei seinem Eintritt in die Gilde gebietet kein Novize bereits über Magie. Wir entwickeln ihre Kräfte erst, wenn sie das Gelübde abgelegt haben. Ich dachte, das wäre dir klar gewesen.« Er lächelte. »Es hat einige Vorteile, wenn sich die Kraft eines Magiers von selbst entwickelt.«
»Aber es wird noch Wochen dauern, bevor sie mit dem Unterricht anfangen können. Ich habe nur stundenlang dasselbe Buch gelesen - und dabei ging es um Dinge, die ich bereits kannte.« Hoffnung leuchtete in ihren Augen auf. »Warum kann ich nicht hier bleiben, bis die anderen auch so weit sind wie ich?«
Rothen unterdrückte ein Lachen. »Wir halten keinen Novizen zurück, der schneller lernt als die anderen. Du solltest das Beste aus dieser Chance machen. Bitte um ein anderes Buch, oder frag deinen Lehrer, ob er bereit ist, einige Übungen mit dir durchzugehen.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Ich glaube nicht, dass den anderen Novizen das gefallen würde.«