Kurze Zeit später ging es nicht mehr weiter, weil die Decke des Tunnels eingestürzt war. Als sie umkehrte, überlegte sie, wie lange sie unterwegs sein mochte. Es war spät, sehr spät. Sie wollte Akkarin keinen Grund geben, sich auf die Suche nach ihr zu machen - oder schlimmer noch, ihr zu befehlen, direkt nach dem abendlichen Unterricht in die Residenz zurückzukehren.
Zufrieden mit ihrem Erfolg machte sie sich wieder auf den Weg hinauf in die Mauern der Universität, zu einer Stelle, wo die Gefahr, beim Verlassen der Geheimgänge gesehen zu werden, sehr gering war.
30
Eine beunruhigende Entdeckung
Als Tania die leeren Sumi-Tassen vom Tisch räumte, gähnte Rothen. Er nahm inzwischen nur noch kleinere Mengen des grauen Schlafpulvers Nemmin, aber das bedeutete, dass er häufig früh erwachte und die letzten Stunden der Nacht damit zubrachte zu grübeln.
»Ich habe heute Nachmittag noch einmal mit Viola gesprochen«, sagte Tania plötzlich. »Sie ist immer noch sehr herablassend - die anderen Diener meinen, sie hätte eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst entwickelt, seit sie für Sonea zuständig ist. Aber mir gegenüber ist sie ein wenig freundlicher, weil ich ihr erklären kann, wie sie sich beim Schützling des Hohen Lords beliebt machen kann.«
Rothen sah sie erwartungsvoll an. »Und?«
»Sie hat mir erzählt, dass es Sonea gut gehe, obwohl sie morgens manchmal müde wirke.«
Er nickte. »Das ist keine Überraschung bei all den zusätzlichen Unterrichtsstunden. Ich habe gehört, dass sie außerdem Lady Tya in der Bibliothek hilft.«
»Viola hat darüber hinaus erzählt, dass Sonea an den Ersttagen mit dem Hohen Lord zu Abend esse. Also vernachlässigt er sie vielleicht nicht so sehr, wie Ihr es befürchtet.«
»Sie essen zusammen zu Abend?« Bei dem Gedanken daran, dass Sonea mit dem Hohen Lord aß, verdüsterte sich Rothens Stimmung. Aber es könnte schlimmer sein, rief er sich ins Gedächtnis. Akkarin hätte sie grundsätzlich in seiner Nähe behalten können, er hätte … aber nein, Rothen wusste, wie halsstarrig sie sein konnte. Sie würde sich nicht von Akkarin in seine dunklen Machenschaften hineinziehen lassen. Trotzdem beschäftigte ihn die Frage, worüber die beiden wohl reden mochten.
— Rothen!
Überrascht richtete Rothen sich auf seinem Stuhl auf.
— Dorrien?
— Vater, wie geht es dir?
— Gut. Und dir?
— Mir geht es gut, aber das Gleiche lässt sich von einigen Leuten hier in meinem Dorf leider nicht sagen. Rothen konnte die Besorgnis seines Sohnes spüren. Wir haben hier eine Epidemie der Schwarzzungenkrankheit in einer ungewöhnlichen Spielart der Seuche. Sobald die Epidemie vorbei ist, werde ich zu einem kurzen Besuch in die Gilde kommen, um Vinara eine Gewebeprobe zu bringen.
— Werde ich dich sehen?
— Natürlich. Ich würde die weite Reise sicher nicht unternehmen, ohne dich zu besuchen! Kann ich in meinem alten Zimmer wohnen?
— Es steht jederzeit für dich bereit, das weißt du.
— Danke. Wie geht es Sonea?
— Gut, soweit ich von Tania weiß.
— Du hast immer noch nicht mit ihr gesprochen?
— Nicht oft, nein.
— Ich dachte, sie würde jede Gelegenheit nutzen, um dich zu besuchen.
— Sie hat alle Hände voll zu tun mit ihrem Studium. Wann wirst du kommen?
— Genau kann ich das noch nicht sagen. Es könnte Wochen oder Monate dauern, bis die Seuche hier durchgezogen ist. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich mehr weiß.
— In Ordnung. Zwei Besuche in einem Jahr!
— Ich wünschte, ich könnte länger bleiben. Bis dann, Vater.
— Pass auf dich auf.
— Mach ich.
Als Dorriens Gedankenstimme verblasste, kicherte Tania leise. »Wie geht es Dorrien?«
Rothen blickte überrascht auf. »Gut. Woher wusstest du, dass er es war?«
Sie zuckte die Achseln. »Ihr habt einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck, wenn Ihr mit ihm sprecht.«
»Ach ja?« Rothen schüttelte den Kopf. »Du kennst mich viel zu gut, Tania. Viel zu gut.«
»Ja«, pflichtete sie ihm lächelnd bei. »Das tue ich.«
Es klopfte an der Tür, und Tania drehte sich um. Rothen machte eine knappe Handbewegung und befahl der Tür, sich zu öffnen. Zu seiner Überraschung war der Besucher Yaldin.
»Guten Abend«, sagte der alte Magier. Er blickte zu Tania hinüber, die sich verbeugte und aus dem Raum schlüpfte. Rothen deutete auf einen Stuhl, und Yaldin nahm mit einem erleichterten Seufzer Platz.
»Ich habe ein wenig ›gelauscht‹, wie Ihr es mich gelehrt habt«, erklärte Yaldin.
Plötzlich fiel Rothen wieder ein, dass heute Vierttag war. Er hatte die Zusammenkunft im Abendsaal völlig vergessen. Es wurde eindeutig Zeit, dass er aufhörte, Nemmin zu nehmen. Vielleicht würde er heute Abend versuchen, ohne die Droge zu schlafen.
»Habt Ihr irgendetwas Interessantes erfahren?«
Yaldin nickte mit ernster Miene. »Es sind wahrscheinlich nur Spekulationen. Ihr wisst ja, wie gern Magier tratschen - und Ihr habt eine besondere Gabe, Euch Novizen auszusuchen, die sich in Schwierigkeiten bringen. Aber ich frage mich, ob er es sich leisten kann, solche Gerüchte wieder aufleben zu lassen. Vor allem…«
»Wieder?«, unterbrach ihn Rothen. Bei Yaldins Worten hatte sein Herz zu hämmern begonnen. Jetzt bekam er kaum noch Luft. War etwas in der Vergangenheit geschehen, das Zweifel an Akkarins Integrität wecken konnte?
»Ja«, sagte Yaldin. »Am Hof von Elyne machen die wildesten Gerüchte die Runde - Ihr kennt die Elyner ja. Was wisst Ihr über diesen Assistenten, der Dannyl auf seinen Reisen begleitet?«
Rothen atmete tief durch. »Dann geht es also um Dannyl?« »Ja.« Yaldin zog die Brauen zusammen. »Ihr erinnert Euch doch an die Gerüchte, die sich mit der Natur seiner Freundschaft zu einem gewissen Novizen beschäftigten?«
Rothen nickte. »Natürlich - aber es wurde niemals irgendetwas bewiesen.«
»Nein, und die meisten von uns haben die Gerüchte mit einem Achselzucken abgetan und die ganze Angelegenheit vergessen. Aber wie Ihr vielleicht wisst, sind die Elyner toleranter, was dergleichen Benehmen betrifft. Nach allem, was ich gehört habe, ist Dannyls Assistent für seine Neigungen bekannt. Glücklicherweise vermuten die meisten Elyner bei Hof, dass Dannyl sich nicht über die Gewohnheiten seines Assistenten im Klaren ist. Anscheinend finden sie die ganze Angelegenheit recht komisch.«
»Ich verstehe.« Rothen schüttelte langsam den Kopf. Ah, Dannyl, dachte er. Habe ich nicht schon genug Sorgen wegen Sonea? Musst du mir auch noch schlaflose Nächte bescheren?
Aber vielleicht war diese Neuigkeit doch nicht so schlimm, wie er zuerst vermutet hatte. Wie Yaldin gesagt hatte, waren die Elyner sehr tolerant und liebten es überdies zu tratschen. Wenn die Elyner glaubten, Dannyl wisse nichts über die Vorlieben seines Assistenten, und wenn sie diese Unwissenheit lediglich erheiternd fanden, konnte es keine Beweise dafür geben, dass mehr hinter Dannyls Beziehung zu dem jungen Mann steckte.
Außerdem war Dannyl inzwischen erwachsen.
»Meint Ihr, wir sollten Dannyl warnen?«, fragte Yaldin. »Wenn er nichts über diesen Assistenten weiß …«
Rothen dachte über den Vorschlag des alten Magiers nach. »Ja. Ich werde ihm schreiben. Aber ich glaube nicht, dass wir uns allzu große Sorgen machen sollten. Er wird schon wissen, wie er mit den Elynern umgehen muss.«
»Aber was ist mit der Gilde?«
»Nichts außer der Zeit selbst wird den Gerüchten hier ein Ende machen, und weder Ihr noch ich - oder Dannyl - können daran etwas ändern.« Rothen seufzte. »Ich denke, diese Art von Spekulationen wird Dannyl sein Leben lang verfolgen. Solange es keine Beweise für irgendetwas gibt, werden diese Gerüchte von Mal zu Mal lächerlicher klingen.«