»Ja.« Tania nahm den Brief entgegen und schob ihn in die Tasche ihrer Uniform. »Sobald ich das Geschirr wieder in die Küche gebracht habe, gehe ich zur Bibliothek hinüber.«
»Ah! Mir tun die Beine weh!«, jammerte Tayend.
Dannyl lachte leise, als der Gelehrte sich auf einen Felsbrocken sinken ließ, um sich auszuruhen. »Du wolltest die Ruinen besuchen. Meine Idee war das nicht.«
»Aber nach Dem Ladeiris Schilderungen klangen sie so interessant.« Tayend zog seine Flasche hervor und trank einige Schlucke Wasser. »Und viel näher.«
»Er hat nur versäumt zu erwähnen, dass wir einige Felswände erklimmen müssen, um hierher zu kommen. Oder dass die Seilbrücke nicht mehr sicher ist.«
»Nun, er hat allerdings erwähnt, dass er schon lange nicht mehr hier oben war. Bisweilen muss die Levitation doch recht nützlich sein.«
»Bisweilen.«
»Warum bist du nicht einmal außer Atem?«
Dannyl lächelte. »Die Levitation ist nicht der einzige nützliche Trick, den die Gilde uns lehrt.«
»Du hast dich geheilt?« Tayend warf einen kleinen Stein nach ihm. »Du mogelst!«
»Dann gehe ich davon aus, dass du meine Hilfe ablehnen würdest, falls ich sie anböte.«
»Nein, ich finde, es wäre nur gerecht, wenn ich denselben Vorteil hätte wie du.«
Dannyl seufzte mit gespielter Resignation. »Na schön, dann gib mir deine Hand.« Zu seiner Überraschung streckte Tayend, ohne zu zögern, den Arm aus, aber als Dannyl die Hand auf die Haut des Gelehrten legte, wandte Tayend den Blick ab und kniff die Augen fest zusammen.
Dannyl sandte ein wenig heilende Magie in Tayends Körper und entspannte dessen strapazierte Muskeln. Die meisten Heiler hätten dieses Tun als Verschwendung von Magie missbilligt. Tayend war nicht krank, er war nur einfach nicht an die Anstrengungen eines Marsches durch gebirgiges Gelände gewöhnt.
Als Dannyl Tayends Arm wieder losließ, stand der Gelehrte auf und blickte an sich hinab.
»Es ist wirklich erstaunlich!«, entfuhr es ihm. »Ich fühle mich genauso wie heute Morgen, bevor wir aufgebrochen sind.« Er grinste Dannyl an und schickte sich an weiterzugehen. »Komm, vorwärts. Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«
Erheitert folgte Dannyl ihm. Nach wenigen hundert Schritten erreichte Tayend eine Anhöhe und blieb stehen. Als Dannyl den Gelehrten einholte, kamen die Ruinen in Sicht. Über eine sanfte Anhöhe zogen sich niedrige Mauern, die die Umrisse der Gebäude markierten. Hier und da hatte eine alte Säule überlebt, und in der Mitte der kleinen, verlassenen Stadt war ein größeres, dachloses Gebäude unversehrt geblieben, dessen Mauern aus riesigen Steinquadern bestanden. Gras und andere Pflanzen hatten alles überwuchert.
»Dies ist also Armje«, murmelte Tayend. »Viel ist nicht davon übrig geblieben.«
»Es ist über tausend Jahre alt.«
»Sehen wir es uns einmal genauer an.«
Der Pfad, der sich auf die Stadt zuschlängelte, wurde schließlich zu einer breiten, grasbewachsenen Straße, die direkt auf das große Gebäude zuführte. Tayend und Dannyl blieben stehen, um einige Räume der kleineren Gebäude zu betrachten.
»Glaubst du, dass das einmal eine Art öffentlicher Waschraum war?«, fragte Tayend, als er vor einer steinernen Bank stand, in die in regelmäßigen Abständen Löcher gebohrt worden waren.
»Vielleicht war es eine Art Küche«, erwiderte Dannyl. »Die Löcher könnten Töpfe über einem Feuer oder einer Kohlenpfanne gehalten haben.«
Als sie das große Gebäude in der Mitte der Ruinen erreichten, fiel Dannyl auf, wie reglos die Luft war. Sie traten unter einem schweren Türsturz hindurch in einen weitläufigen Raum. Der ebenerdige Boden lag verborgen unter Erde, hüfthohen Gräsern und Kräutern.
»Was das wohl früher einmal gewesen sein mag?«, überlegte Tayend laut. »Etwas Wichtiges jedenfalls. Ein Palast vielleicht. Oder ein Tempel.«
Als sie in einen kleineren Raum kamen, stürmte Tayend plötzlich zu einer Seite hinüber, um die Wand zu betrachten, in die ein komplexes Muster eingeritzt war.
»Ich kann einzelne Worte entziffern«, sagte er. »Etwas über Gesetze.«
Dannyl kam näher, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er eine eingeritzte Hand entdeckte. »Sieh dir das an.«
»Das ist die Glyphe für Magie«, sagte Tayend abschätzig.
»Eine Hand ist in der Sprache des alten Elyne das Zeichen für Magie?«
»Ja - und dasselbe Zeichen kommt in vielen alten Schriften vor. Einige glauben, der moderne Buchstabe ›M‹ sei aus dem Symbol einer Hand abgeleitet.«
»Dann deutet die Hälfte des Titels des Königs von Charkan also auf Magie hin. Aber was bedeutet der Halbmond?«
Tayend zuckte die Achseln und ging weiter in die Ruine hinein. »Mondmagie. Nachtmagie. Folgt die Magie jemals den Zyklen des Mondes?«
»Nein.«
»Vielleicht hat es irgendetwas mit Frauen zu tun. Mit weiblicher Magie. Warte - sieh dir das an!«
Tayend war vor einer anderen Wand mit ähnlichen Inschriften stehen geblieben. Er zeigte auf einen weiter oben gelegenen Bereich, wo einige Steine abgebröckelt waren und nur noch ein Teil der Schrift erhalten geblieben war. Dannyl sog scharf die Luft ein. Der Gelehrte zeigte nicht auf eine der in Stein gemeißelten Glyphen, sondern auf einen bekannten, mit modernen Buchstaben geschriebenen Namen.
»Dem Ladeiri hat nicht davon gesprochen, dass Akkarin hier oben war«, sagte Tayend.
»Vielleicht hat er es vergessen. Vielleicht hat Akkarin es ihm nicht erzählt.«
»Aber er wollte, dass wir unbedingt hier raufgehen.«
Dannyl betrachtete den Namen, dann besah er sich den Rest der Wand. »Was bedeuten diese alten Schriften?«
Tayend trat näher an die Wand heran. »Gib mir ein wenig Zeit …«
Während der Gelehrte die Schriftzeichen untersuchte, sah sich Dannyl in dem Raum um. Unter Akkarins Namen befand sich die Reliefschnitzerei eines Torbogens. Oder war es etwas anderes? Er scharrte mit dem Fuß die Erde und das Gras weg und lächelte, als er einen Ritz freilegte.
Tayend schnappte nach Luft. »Diesen Worten zufolge handelt es sich hier um eine…«
»Tür«, beendete Dannyl seinen Satz.
»Ja!« Tayend klopfte an die Wand. »Und sie führt zu einem Gerichtssaal. Ich wüsste zu gern, ob man sie noch öffnen kann.«
Dannyl streckte seine Sinne nach der Tür aus. Er entdeckte einen simplen Mechanismus, der sich nur von innen öffnen ließ - oder durch Magie.
»Geh ein Stück beiseite.«
Tayend gehorchte, und Dannyl konzentrierte sich. Der Schließmechanismus drehte sich widerstrebend und kämpfte gegen das Erdreich, den Staub und das Gras an, die den Eingang versperrten. Ein lautes Dröhnen und Scharren erklang, als die steinerne Tür nach innen aufschwang und einen dunklen Gang preisgab.
Nachdem die Tür sich weit genug geöffnet hatte, um sich seitlich hindurchzuschieben, ließ Dannyl den Mechanismus los, weil er befürchtete, womöglich dauerhaften Schaden anzurichten, wenn er noch mehr Gewalt ausübte. Er tauschte einen Blick mit Tayend.
»Wollen wir hineingehen?«, flüsterte der Gelehrte.
Dannyl runzelte die Stirn. »Ich gehe. Die Konstruktion könnte instabil sein.«
Tayend machte ein Gesicht, als wolle er dagegen protestieren, schien sich dann aber anders zu besinnen. »Ich werde derweil weiter versuchen, diesen Text zu übersetzen.«
»Ich komme zurück, sobald ich weiß, dass keine Gefahr droht.«
»Das möchte ich dir auch geraten haben.«
Nachdem Dannyl sich durch die Tür geschoben hatte, beschwor er eine Lichtkugel herauf und sandte sie voraus. Die Mauern waren vollkommen schmucklos. Zuerst musste er feine Kaskaden von Wurzeln und Faren-Weben aus dem Weg räumen, aber nach ungefähr zwanzig Schritten hatte er freie Bahn. Der Boden war leicht abschüssig, und die Luft wurde schnell kälter.
Es gab keine Nebenflure. Die Decke war niedrig, und schon bald beschlich Dannyl ein vertrautes Unbehagen. Er zählte seine Schritte und war bei zweihundert angelangt, als die Mauern links und rechts von ihm endeten. Der Gang indes führte als schmaler Sims weiter in undurchdringliche Dunkelheit. Vorsichtig trat er auf diesen schmalen Felsgrat, bereit zu schweben, falls der Boden unter seinen Füßen nachgeben sollte. Das Echo seiner Schritte sagte ihm, dass es zu beiden Seiten tief hinunterging.