Er schürzte die Lippen. Sie hatte natürlich Recht, aber er wusste auch, was geschehen würde, wenn er Jerrik bat, Sonea vom Unterricht zu befreien, bis die anderen sie eingeholt hatten: Der Direktor würde eine solche Bitte entschieden ablehnen.
»Man erwartet von den Novizen, dass sie miteinander in Wettstreit treten«, erklärte er ihr. »Deine Klassenkameraden werden immer versuchen, dich zu übertreffen. Es wird keinen Unterschied machen, wenn du versuchst, dich um ihretwillen zurückzuhalten. Tatsächlich wirst du ihren Respekt verlieren, wenn du deine Fortschritte opferst, damit sie dich einholen können.«
Sonea nickte und senkte den Blick auf den Tisch. Ein Stich des Mitleids durchzuckte Rothen. Wie sehr er sich auch bemühte, ihr zu helfen, es musste ungemein verwirrend und frustrierend für sie sein, sich plötzlich in der engen, kleinen Welt der Novizen wiederzufinden.
»Außerdem hast du so einen großen Vorsprung nun auch wieder nicht«, fuhr er fort. »Ich habe einige Wochen gebraucht, um dich die Kontrolle über deine Magie zu lehren, weil ich zuerst dein Vertrauen gewinnen musste. Die Begabtesten unter den Novizen werden diese Hürde bereits am Ende der Woche genommen haben, und die übrigen werden höchstens zwei Wochen dafür benötigen. Sie werden dich schneller einholen, als du denkst, Sonea.«
Sie nickte. Dann nahm sie einen Löffel voll Pulver aus einem Glas und mischte es mit heißem Wasser aus einem Krug. Der scharfe Duft von Raka drang an Rothens Nase. Als Sonea an ihrem Becher nippte, verzog er das Gesicht und fragte sich, wie sie dieses Stärkungsmittel nur ertragen konnte. Er hatte sie dazu überredet, Sumi zu probieren, das verbreitetste Getränk in den Häusern, aber sie hatte keinen Gefallen daran gefunden.
Jetzt trommelte Sonea mit den Fingernägeln auf ihren Becher. »Issle hat etwas Merkwürdiges gesagt. Sie meinte, männliche Lehrer sollten keine weiblichen Novizen unterrichten.«
»Stammt diese Issle aus Elyne?«
»Ja.«
»Ah«, seufzte er. »Die Elyner. Sie sind zimperlicher als die Kyralier, was den Kontakt zwischen Jungen und Mädchen angeht. Sie bestehen darauf, dass ihre Töchter von Frauen unterrichtet werden, und reagieren sogar schockiert, wenn Mädchen anderer Rassen von einem Mann unterrichtet werden. Ihnen zuliebe bekommen daher bei uns alle weiblichen Novizen eine Lehrerin. Ironischerweise sind die Elyner erheblich freizügiger, was das Treiben Erwachsener angeht.«
»Schockiert.« Sonea nickte. »Ja, genauso wirkte sie auf mich.«
Rothen runzelte die Stirn. »Es wäre vielleicht klüger gewesen, sie in dem Glauben zu lassen, ich hätte eine Frau als Lehrerin für dich hinzugezogen. Die Elyner können in solchen Dingen ausgesprochen engstirnig sein.«
»Ich wünschte, Ihr hättet mir das früher gesagt. Zuerst war sie sehr freundlich zu mir, aber dann…« Sonea schüttelte den Kopf.
»Sie wird die Sache schon vergessen«, beruhigte er sie. »Gib ihr ein wenig Zeit, Sonea. In wenigen Wochen wirst du Freunde haben, und dann wirst du dich fragen, warum du dir solche Sorgen gemacht hast.«
Sie blickte auf ihren Raka-Becher hinab. »Eine einzige Freundin oder ein einziger Freund würde mir schon genügen.«
In dem großen, nur schwach beleuchteten Büro des Gildeadministrators schwebte eine Lichtkugel hin und her und zeichnete lange Schatten auf die Wände. Als Lorlen am Ende des Briefes angelangt war, blieb er stehen und murmelte einen Fluch.
»Zwanzig Goldmünzen für eine Flasche!«
Er kehrte mit langen Schritten zu seinem Stuhl zurück, setzte sich hin, öffnete eine Schatulle und nahm einen Bogen dicken Papiers heraus. Während er schrieb, erfüllte das entschlossene Kratzen seiner Feder den Raum. Ab und zu hielt er inne und las mit schmalen Augen einen Satz noch einmal durch. Schließlich unterzeichnete er den Brief, lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk.
Dann warf er den Brief mit einem Seufzer in den Papierkorb unter seinem Schreibtisch.
Die Lieferanten der Gilde hatten seit Jahrhunderten den Reichtum des Königs ausgenutzt. Wenn der Käufer die Gilde war, waren alle Waren doppelt oder dreimal so teuer wie gewöhnlich. Das war einer der Gründe, warum die Gilde ihre eigenen Heilkräuter anbaute.
Lorlen stützte die Ellbogen auf den Tisch und dachte noch einmal über die Preisliste des Weinlieferanten nach. Niemand konnte ihn zwingen, dem Mann seinen Wein abzukaufen. Ein solcher Entschluss würde natürlich politische Konsequenzen haben, aber sie ließen sich wahrscheinlich vermeiden, wenn er von demselben Haus andere Waren kaufte.
Aber dieser Wein war Akkarins Lieblingswein. Gekeltert aus der winzigsten Sorte von Vare-Beeren, war er süß und sehr aromatisch. Der Hohe Lord hatte immer eine Flasche davon in seinem Gästezimmer stehen, und es würde ihm gar nicht gefallen, wenn ihm die Vorräte ausgingen.
Lorlen schnitt eine Grimasse und griff nach einem neuen Bogen Papier. Dann hielt er inne. Er sollte nicht derart nach Akkarins Pfeife tanzen. Früher hatte er das nie getan, und Akkarin würde die Veränderung möglicherweise bemerken. Er würde sich vielleicht fragen, warum Lorlen sich mit einem Mal so seltsam benahm.
Andererseits musste Akkarin inzwischen aufgefallen sein, dass Lorlen sich kaum noch zu einem abendlichen Gespräch bei ihm einstellte. Stirnrunzelnd überlegte Lorlen, wie lange es her war, seit er das letzte Mal den Mut aufgebracht hatte, den Hohen Lord zu besuchen. Zu lange.
Seufzend legte er die Stirn in die Hände und schloss die Augen. Ah, Sonea. Warum musstest du sein Geheimnis ausgerechnet mir offenbaren? Erinnerungen gingen ihm durch den Sinn. Es waren Soneas Erinnerungen, nicht die seinen, aber die Einzelheiten waren dennoch von unverminderter Lebendigkeit …
»Es ist vollbracht«, sagte Akkarin. Dann legte er seinen Umhang ab, und darunter kamen die blutbefleckten Kleider zum Vorschein. Er blickte an sich herab. »Hast du meine Roben mitgebracht?«
Der Diener murmelte eine Antwort, und Akkarin zog das Bettlerhemd aus. Darunter kam ein Ledergürtel zum Vorschein, an dem eine Dolchscheide hing. Akkarin wusch sich, verschwand kurz und kam in schwarzen Roben zurück.
Als Nächstes zog er einen funkelnden Dolch aus der Scheide, wischte ihn an einem Tuch ab und blickte zu seinem Diener auf.
»Der Kampf hat mich geschwächt«, sagte er. »Ich brauche deine Kraft.«
Der Diener ließ sich auf ein Knie sinken und bot seinen Arm dar. Akkarin fuhr mit der Klinge über die Haut des Mannes und legte dann eine Hand über die Wunde…
Lorlen schauderte. Er öffnete die Augen, holte tief Luft und schüttelte den Kopf.
Er wünschte, er hätte Soneas Erinnerung als schlichten Irrtum abtun können, den Irrtum eines Menschen, der Magier für schlecht und grausam gehalten hatte. Aber so klare Erinnerungen konnten unmöglich falsch sein - und wie hätte Sonea sich das alles ausdenken können, wenn sie nicht einmal verstanden hatte, was vor ihren Augen geschehen war? Er lächelte beinahe, als er an ihre Vermutung dachte, bei dem schwarz gewandeten Magier könne es sich um einen geheimen Assassinen der Gilde gehandelt haben. Die Wahrheit war weitaus schlimmer, und wie gern Lorlen sie auch ignoriert hätte, er konnte es nicht.
Akkarin, sein engster Freund und Hoher Lord der Gilde, praktizierte schwarze Magie.
Lorlen hatte stets einen gewissen stillen Stolz darüber verspürt, dass er der größten Vereinigung von Magiern angehörte, die je existiert hatte. Ein Teil von ihm war zutiefst entrüstet darüber, dass der Hohe Lord, der für alles stehen sollte, was gut und ehrenwert in der Gilde war, sich mit verbotener, böser Magie abgab. Dieser Teil von ihm wollte das Verbrechen enthüllen, wollte diesen potenziell gefährlichen Mann seines Einflusses und seiner Autorität entkleidet sehen.
Aber ein anderer Teil von ihm erkannte auch die Gefahr, die eine Konfrontation mit dem Hohen Lord in sich barg. Die Situation machte höchste Vorsicht notwendig. Wieder schauderte Lorlen, als er sich an jenen Tag vor vielen Jahren erinnerte, an dem die Prüfungen zur Auswahl eines neuen Hohen Lords stattgefunden hatten. Akkarin hatte in einem Kräftemessen nicht nur die mächtigsten Magier übertroffen, sondern in einem Wettkampf, der eigens stattfand, um seine Grenzen auszuloten, mühelos der vereinten Kraft von mehr als zwanzig der mächtigsten Magier widerstanden.