— Und um entgegen Lorlens Anweisungen Eure Nachforschungen fortzusetzen.
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Dannyl staunte selbst über die Erleichterung, die er empfand. Wenn Akkarin Gerüchte über Tayend und ihn zu Ohren gekommen wären … Er wandte seine Gedanken hastig von dem Thema ab.
— Ja, bestätigte er und konzentrierte sich bewusst auf das Grab der Weißen Tränen und das Rätsel um den König von Charkan. Ich bin der Sache aus eigenem Interesse weiter nachgegangen. Lorlen hat mir nicht ausdrücklich untersagt, das zu tun.
— Eure Pflichten als Botschafter sind offensichtlich nicht allzu zeitraubend.
Dannyl zuckte zusammen. Hinter Akkarins Worten verbarg sich unverkennbare Missbilligung. Machte er sich einfach Sorgen, dass Dannyl zu viel Zeit auf seine Nachforschungen verwandte, oder missfiel es ihm, dass ein anderer Magier die Arbeit fortsetzte, die er aufgegeben hatte? Oder ärgerte es ihn, dass jemand einen Teil seiner Vergangenheit erkundete? Hatte er etwas zu verbergen?
— Ich möchte Eure Entdeckungen mit Euch persönlich besprechen. Kehrt sofort in die Gilde zurück und bringt Eure Notizen mit.
Überrascht zögerte Dannyl, bevor er fragte:
— Was ist mit den noch ausstehenden Besuchen bei den Dems?
— Ihr werdet später zurückkehren, um Eure Pflichten weiter wahrzunehmen.
— Wie Ihr wünscht … Ich werde vorher noch…
— Erstattet mir Bericht, sobald Ihr angekommen seid.
Akkarins Tonfall machte deutlich, dass das Gespräch beendet war. Dannyl öffnete die Augen und fluchte.
»Was ist passiert?«, fragte Tayend.
»Das war… der Hohe Lord.«
Tayends Augen weiteten sich. »Was hat er gesagt?«
»Er hat von unseren Nachforschungen erfahren.« Dannyl seufzte. »Ich glaube, er ist nicht allzu glücklich darüber. Er hat mir befohlen zurückzukehren.«
»Zurückkehren … in die Gilde?«
»Ja. Mit unseren Notizen.«
Tayend sah ihn entsetzt an, dann verhärtete sich seine Miene. »Wie hat er das erfahren?«
»Ich weiß es nicht.« Die Frage war berechtigt. Bei der Erinnerung an die Geschichten, nach denen Akkarin in der Lage sei, auch die Gedanken widerstrebender Geister zu lesen, schauderte Dannyl abermals. Es hat einen Moment gegeben, in dem ich an Tayend dachte… Hat er irgendetwas entdeckt?
»Ich werde dich begleiten«, sagte Tayend.
»Nein«, widersprach Dannyl erschrocken. »Glaub mir, du möchtest da nicht mit hineingezogen werden.«
»Aber…«
»Nein, Tayend. Es ist besser, er erfährt nicht, wie viel du über diese Dinge weißt.« Dannyl trieb sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Er dachte an die langen Wochen des Reisens zu Pferd und mit dem Schiff, die zwischen diesem Tag und seiner Begegnung mit Akkarin lagen. Eigentlich hätte er den Wunsch haben müssen, diesen Moment möglichst lange hinauszuzögern, aber stattdessen verspürte er den Drang, ihm entgegenzueilen, denn ein bestimmter Gedanke bewegte ihn mehr als alle anderen.
Was würde mit Tayend geschehen, wenn Akkarin daran Anstoß nahm, dass Dannyl seine Nachforschungen fortgesetzt hatte? Würde die Missbilligung des Hohen Lords sich auch auf den Gelehrten erstrecken? Könnte Tayend den Zutritt zu der Großen Bibliothek verlieren?
Es kümmerte Dannyl nicht, welche Konsequenzen er zu tragen hatte, solange Tayend nicht darunter leiden musste. Was auch geschah, Dannyl würde dafür sorgen, dass man ihn als den einzig Verantwortlichen betrachtete.
Die Gartenbank war warm. Sonea stellte ihren Bücherkoffer auf den Boden, schloss die Augen und genoss die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Sie konnte das Geplauder anderer Novizen hören und die tieferen Stimmen älterer Magier, die langsam näher kamen.
Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass mehrere Heiler den Pfad hinunter auf sie zuschlenderten. Einige waren jüngere Absolventen. Jetzt brachen sie in lautes Gelächter aus, und als zwei von ihnen auseinander traten, erhaschte Sonea einen Blick auf ein vertrautes Gesicht.
Dorrien!
Ihr Herz schlug schneller. Sie stand auf und eilte einen Seitenweg hinunter, in der Hoffnung, dass der junge Magier sie nicht gesehen hatte. Sie kam in einen kleinen, von hohen Hecken abgegrenzten Bereich des Gartens und setzte sich auf eine andere Bank.
Sie hatte Dorrien mit Macht aus ihren Gedanken gedrängt, wohl wissend, dass Monate vergehen würden, vielleicht sogar mehr als ein Jahr, bevor er die Gilde das nächste Mal besuchen würde. Aber jetzt war er hier, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Warum war er so bald zurückgekehrt? Hatte Rothen ihm von Akkarin erzählt? Unmöglich. Aber vielleicht hatte er Dorrien bei ihren mittels Gedankenrede geführten Gesprächen unbeabsichtigt den Eindruck vermittelt, dass irgendetwas hier nicht so sei, wie es sein sollte.
Sie runzelte die Stirn. Aus welchem Grund auch immer er hier war, Dorrien würde sie gewiss aufsuchen. Sie würde ihm sagen müssen, dass sie kein Interesse mehr an irgendetwas anderem als Freundschaft hätte. Nun, das war ein Gespräch, auf dass sie sich würde vorbereiten müssen.
»Sonea.«
Sie sprang auf. Dorrien stand am Eingang des kleinen Gartens.
»Dorrien!« Sie kämpfte ihre Panik nieder. Er musste sie gesehen haben und ihr gefolgt sein. Zumindest brauchte sie keine Überraschung zu heucheln. »Du bist schon wieder da!«
Er lächelte und kam näher. »Nur für eine Woche. Hat mein Vater dir nichts davon erzählt?«
»Nein … aber wir sehen uns jetzt nicht mehr sooft.«
»Das sagte er.« Sein Lächeln verschwand. Er setzte sich auf die Bank und musterte Sonea fragend. »Er hat mir erzählt, dass du jetzt abends Kurse besuchst und den größten Teil deiner Zeit auf das Studium verwendest.«
»Nur weil ich eine völlig hoffnungslose Kriegerin bin.«
»Da habe ich aber anderes gehört.«
Sie runzelte die Stirn. »Was hast du denn gehört?«
»Dass du mit mehreren Novizen gleichzeitig gekämpft - und gesiegt hast.«
Sonea zuckte zusammen.
»Oder habe ich das mit dem Siegen falsch verstanden?«
»Wie viele Leute wissen davon?«
»Die meisten.«
Sonea barg den Kopf in den Händen und stöhnte. Dorrien kicherte und klopfte ihr sachte auf die Schulter.
»Regin steckt dahinter, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Warum unternimmt dein neuer Mentor nichts dagegen?«
Sonea zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass er Bescheid weiß. Und ich möchte auch nicht, dass er davon erfährt.«
»Ich verstehe.« Dorrien nickte. »Wenn Akkarin ständig zu deiner Rettung käme, würden die Leute wohl sagen, du seist keine gute Wahl gewesen. Die Novizen sind alle eifersüchtig auf dich. Sie begreifen nicht, dass sie in der gleichen Situation wären, wenn der Hohe Lord sie ausgewählt hätte. Und die Tatsache, dass sie aus den Häusern stammen, hätte die Dinge kaum geändert. Jeder Novize, den er erwählt hätte, wäre eine Zielscheibe gewesen. Man würde von ihm erwarten, dass er pausenlos beweist, dass er der Wahl des Hohen Lords würdig war.«
Dorrien verfiel in Schweigen, und Sonea konnte an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass er konzentriert nachdachte. »Das heißt, es liegt an dir, diesen Novizen Einhalt zu gebieten.«
Sie lachte verbittert. »Ich glaube nicht, dass es diesmal etwas ändern würde, wenn ich Regin eine Falle stellte.«
»Oh, daran hatte ich auch nicht gedacht.«
»Woran hast du denn gedacht?«
Dorrien lächelte. »Du musst beweisen, dass du die Beste bist. Dass du ihn in seinem eigenen Spiel schlagen kannst. Was hast du bisher getan, um es ihm heimzuzahlen?«
»Nichts. Ich kann nichts tun. Es sind zu viele.«
»Es muss doch auch Novizen geben, die ihn nicht mögen«, bemerkte er. »Bring sie dazu, dir zu helfen.«