»Bei Dorrien bewirken Entmutigungen häufig genau das Gegenteil«, bemerkte Rothen trocken.
Der Blick, den Lorlen ihm zuwarf, war ohne jede Heiterkeit. »Ihr seid sein Vater«, sagte er. »Von allen Menschen solltet Ihr am besten wissen, wie man mit ihm umgehen muss.«
Rothen wandte sich ab. »Ich wünsche mir genauso wenig wie Ihr, dass er in diese Angelegenheit verwickelt wird.«
Lorlen seufzte und sah auf seine Hände hinab. Er trug einen Ring, und der Rubin glitzerte im Licht. »Es tut mir Leid, Rothen. Wir haben schon genug Sorgen. Ich baue darauf, dass Ihr alles in Eurer Macht Stehende tun werdet. Glaubt Ihr, dass Sonea die Gefahr erkennen und ihn abweisen wird?«
»Ja.« Natürlich würde sie das tun. Ein Stich des Mitleids für seinen Sohn durchzuckte ihn. Armer Dorrien! Er hatte gewiss schon halb erwartet, dass Sonea das Interesse an ihm verlieren würde, eingedenk der vielen Jahre des Studiums, die noch vor ihr lagen, und seiner langen Abwesenheit von der Gilde. Aber wenn Dorrien den wahren Grund erführe, würde ihn das wahrscheinlich dazu treiben, eine Dummheit zu begehen. Besser, er erfuhr es nicht.
Wie mochten Soneas Gefühle aussehen? Fiel es ihr schwer, Dorrien abzuweisen? Rothen seufzte. Wie sehr er sich wünschte, er hätte sie fragen können.
Lorlen ging zur Tür hinüber. »Ich danke Euch, Rothen. Und nun werde ich Euch Euren Vorbereitungen überlassen.«
Rothen nickte und sah dem Administrator nach. Obwohl er Lorlens Resignation verstand, nahm er dem anderen Mann seine Einstellung übel. Deine Aufgabe wäre es, einen Ausweg zu finden, dachte er verdrossen. Langsam trat an die Stelle des Grolls ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit.
Wenn Lorlen keinen Ausweg finden konnte, wer dann?
Es ist noch lange nicht Morgen, dachte Sonea benommen. Noch nicht lange nach Mitternacht. Warum bin ich wach? Hat irgendetwas mich geweckt …?
Etwas Kühles berührte ihre Wange. Ein Luftzug. Sie schlug die Augen auf und nahm sich einen Moment Zeit, um das dunkle Quadrat zu betrachten, wo eine Tür hätte sein sollen. Etwas Bleiches bewegte sich in dieser Dunkelheit. Eine Hand.
Beim nächsten Herzschlag war sie hellwach. Ein bleiches Oval schwebte über der Hand. Darüber hinaus war er in seinen schwarzen Roben praktisch unsichtbar.
Was tut er da? Warum ist er hier?
Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie davon überzeugt war, er müsse es hören. Sie zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, voller Angst vor dem, was er vielleicht tun würde, wenn er begriff, dass sie wach war. Quälend lange zogen sich die Minuten hin, während er in ihrem Zimmer stand. Dann, als sie gerade einmal blinzelte, war er plötzlich fort, und die Tür war geschlossen.
Sie starrte die Tür an. War das Ganze ein Traum gewesen?
Sie war gut beraten, das zu glauben. Die Alternative war zu erschreckend. Ja, es musste ein Albtraum gewesen sein…
Als sie das nächste Mal erwachte, war es Morgen. Das Bild des nächtlichen Beobachters war verschmolzen mit der Erinnerung an Träume voller dunkler Gestalten und böser Ahnungen, und als Sonea aufstand und in ihre Robe schlüpfte, schob sie alle Gedanken daran energisch beiseite.
35
Die Herausforderung
Auf den ersten Blick war alles in Ordnung, aber als Sonea genauer hinsah, bemerkte sie, dass die Chemikalie in einer der Phiolen trüb und der Inhalt der anderen zu einem braunen Klumpen vertrocknet war. Das komplizierte Arrangement von Stangen und Gewichten in der Zeitschaltung war vergebens aufgebaut worden.
Von der Tür hinter ihr hörte Sonea ein leises, vertrautes Kichern. Sie richtete sich auf, drehte sich jedoch nicht um.
Nach ihrem Gespräch mit Dorrien war sie voller Zuversicht gewesen und bereit, Regin bei der ersten sich bietenden Gelegenheit herauszufordern, aber im Laufe des Tages waren ihr zunehmend Zweifel gekommen. Wenn sie sich ausmalte, tatsächlich gegen Regin zu kämpfen, erschien ihr diese Idee von Mal zu Mal weniger brillant und dafür umso törichter. Die Kriegskünste waren Regins bestes Fach - und ihr schlechtestes. Wenn sie verlor, würden die Schikanen niemals ein Ende nehmen. Es war das Risiko nicht wert.
Am Ende der Woche war sie zu dem Schluss gekommen, dass eine Herausforderung Regins das Schlimmste sei, was sie tun konnte. Wenn sie ihn gewähren ließ, würde das Spiel ihn vielleicht irgendwann langweilen. Sie konnte es ertragen, wenn man ihr außerhalb des Unterrichts Beschimpfungen zurief oder ihr auflauerte und sie quälte.
Aber dies ging zu weit. Als sie die Ruinen dessen, was ihre Arbeit gewesen war, betrachtete, stieg dunkler, siedender Zorn in ihr auf. Wenn Regin so etwas tun konnte, wenn die Lehrer ihn nicht einmal dafür bestraften, dass er eines ihrer Experimente sabotierte, dann hinderte er sie daran zu lernen. Und wenn er sie am Lernen hinderte, verringerte er die Chancen, dass sie eines Tages vielleicht stark genug sein würde, um der Gilde im Kampf gegen Akkarin beizustehen.
Während ihr Zorn wuchs, geschah etwas in ihr. Plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Regin zu Asche zu verbrennen.
Ein Duell. Es war ein Risiko. Aber auch wenn sie wartete, war es ein Glücksspiel. Vielleicht würde er seiner Schikanen niemals überdrüssig werden, vielleicht würde er sie niemals in Ruhe lassen. Außerdem wartete sie nicht gerne…
Langsam drehte sie sich um. Regin und die Novizen aus ihrer früheren Klasse standen in der Tür und beobachteten sie. Sie ging auf sie zu und drängte sich zwischen ihnen hindurch aus dem Klassenzimmer. Draußen auf dem Flur wimmelte es von Novizen und Lehrern. Das Stimmengewirr war laut, aber nicht so laut, dass es eine einzelne Stimme nicht hätte übertönen können. Ein Magier in purpurnen Roben erschien und kam auf das Klassenzimmer zu. Lord Sarrin, das Oberhaupt der Alchemisten. Perfekt.
»Was ist los, Sonea?«, höhnte Regin. »Hat dein Experiment nicht funktioniert?«
Sonea wirbelte zu Regin herum.
»Regin aus der Familie Winar und dem Haus Paren, ich fordere dich zu einem formellen Kampf in der Arena.«
Regins Gesicht erstarrte zu einer Maske der Überraschung.
Stille breitete sich aus wie Rauch. Aus den Augenwinkeln sah Sonea etliche Gesichter, die sich in ihre Richtung wandten. Selbst Lord Sarrin war stehen geblieben. Sie drängte das nagende Gefühl beiseite, sie könnte soeben etwas getan haben, was sie für den Rest ihres Lebens bereuen würde. Zu spät.
Endlich gelang es Regin, den Mund zu schließen. Seine Miene wurde nachdenklich. Sie fragte sich, ob er ihre Forderung ablehnen und erklären würde, sie sei es nicht wert, dass man gegen sie kämpfte. Gib ihm keine Zeit zum Nachdenken.
»Nimmst du meine Herausforderung an?«, fragte sie scharf.
Er zögerte, dann lächelte er breit. »Ich nehme an, Sonea aus einer Familie ohne Belang.«
Sofort wurde Getuschel im Flur laut. Aus Angst, der Mut könnte sie verlassen, wenn sie sich umsah, hielt Sonea den Blick auf Regin gerichtet. Er drehte sich kurz zu seinen Gefährten um, dann lachte er. »Oh, das wird ein …«
»Du wählst den Zeitpunkt«, blaffte sie ihn an.
Sein Lächeln verschwand für eine Sekunde, dann kehrte es wieder zurück. »Ich sollte dir wohl besser ein wenig Zeit geben, vorher noch etwas zu üben«, sagte er leichthin. »Freitag, morgen in einer Woche, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Das scheint mir großzügig genug zu sein.«
»Sonea«, erklang jetzt eine ältere Stimme.
Sie drehte sich um und stellte fest, dass Lord Elben auf sie zukam. Er funkelte das Publikum, das sich versammelt hatte, wütend an und runzelte die Stirn. »Dein Experiment ist fehlgeschlagen. Ich habe es mir gestern Abend angesehen und heute wieder, und ich kann keinen Grund dafür finden. Ich gebe dir noch einen Tag Zeit, um es ein zweites Mal zu versuchen.«
Sie verneigte sich. »Vielen Dank, Lord Elben.«
Er musterte die Novizen, die in der Tür standen. »Genug geplaudert. Soweit ich weiß, findet der Unterricht innerhalb der Räume statt.«