Sonea starrte Regin an, der ihren Blick mit geheuchelter Arglosigkeit erwiderte. Ausweichmanöver dieser Art galten im Kampf als schlechter Stil, aber es gab keine Regeln, die sie verboten. Sonea war überrascht, dass er zu etwas Derartigem Zuflucht nahm, aber er hatte es einfach nur deshalb getan, damit sie ihre Kräfte für einen nutzlosen Angriff vergeudete. Regin lächelte. Der Sand um seine Füße regte sich.
Ein Raunen ging durch die Menge, als der Sand sich vom Boden der Arena erhob. Sonea fragte sich, was Regin tat - und warum. Yikmo hatte keine Taktik erwähnt, die das beinhaltete. Tatsächlich hatte er gesagt, dass Projektion in einem formellen Kampf ohne Belang sei.
Sand peitschte jetzt durch die Arena. Er wurde sehr schnell dichter und erfüllte die Luft mit einem dünnen Heulen. Sonea runzelte die Stirn, als sie Regin plötzlich nicht mehr sehen konnte. Schon bald würde sie nichts mehr sehen als Weiß.
Dann prallte etwas Stärkeres gegen ihren Schild. Sie schätzte die Richtung ab, aus der der Angriff gekommen war, und schleuderte einen weiteren Zauber nach Regin, aber der nächste Angriff traf sie von hinten und dann ein dritter von oben.
Er hat mich geblendet, schoss es ihr durch den Kopf. Irgendwo hinter dieser Wand aus Sand bewegte er sich durch die Arena oder formte seine Zauber so, dass sie sich wölbten und sie aus einer anderen Richtung trafen. Sie konnte nicht kämpfen, wenn sie nicht wusste, wo Regin war.
Aber das würde keine Rolle spielen, wenn sie ihre Magie in alle Richtungen gleichzeitig schickte.
Sie griff nach ihrer Macht und sandte eine Vielzahl machtvoller Zauber aus. Abrupt senkte sich der Sand um sie herum und bildete einen Ring auf dem Boden. Regin hatte den Sandsturm auf sie konzentriert. Deshalb wusste er also, wo ich war.
Er stand auf der anderen Seite der Arena und beobachtete sie genau. Als sie ihn sah, wusste sie, dass er abzuschätzen versuchte, wie müde sie war.
Ich bin nicht müde.
Als sie angriff, wich er abermals aus. Sie spürte ein Lächeln, das an ihren Lippen zupfte. Wenn Regin ihre Kraft vergeuden wollte, würde sie ihn wie einen verängstigten Rassook kreuz und quer durch die Arena rennen lassen. Irgendwann würde sie ihn zu fassen bekommen.
Oder sie könnte ihre Zauber um die Arena biegen, so dass er nirgendwo hinlaufen konnte.
Ja. Beenden wir diese Angelegenheit.
Sie schloss halb die Augen und konzentrierte sich auf die Quelle ihrer Macht. Dann griff sie nach der gesamten Magie, die ihr noch zur Verfügung stand, und ließ nur ein klein wenig übrig. Im Geiste formte sie ein Muster, das ebenso schön wie tödlich war. Dann hob sie die Arme. Jetzt spielte es keine Rolle mehr, ob sie ihre Absichten zu erkennen gab. Als sie die Magie losließ, wusste sie, dass dies die gewaltigste Wucht war, die sie je freigesetzt hatte. Sie sandte ihren Angriff in drei Wellen von Kraftzaubern aus, ein jeder machtvoller als der vorangegangene.
Als die Zauber sich wie eine leuchtende, gefährliche Blume ausbreiteten und sich dann auf Regin hinabneigten, hörte sie ein leises Geräusch aus dem Publikum.
Regins Augen weiteten sich. Er trat zurück, aber er konnte sich nirgendwo in Sicherheit bringen. Als die ersten Zauber trafen, brach sein Schild in sich zusammen.
Einen Herzschlag später prallte die zweite Welle gegen den inneren Schild. Regins Gesichtsausdruck veränderte sich - wo zuvor noch Überraschung gewesen war, war jetzt Entsetzen. Er sah zu Lord Garrel hinüber, dann riss er, als die dritte Welle von Zaubern ihn fast erreicht hatte, beide Arme hoch.
Als die dritte Angriffswelle ihr Ziel traf, hörte Sonea einen lauten Ausruf. Sie erkannte Garrels Stimme. Der innere Schild um Regin wankte …
… blieb jedoch intakt.
Sonea drehte sich um, um Regins Mentor anzusehen. Er presste die Hände auf die Schläfen und taumelte. Akkarin legte dem Magier eine Hand auf die Schulter.
Dann lenkte ein leiser, dumpfer Aufprall Soneas Aufmerksamkeit wieder auf die Arena. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie Regin im Sand liegen sah. Alles war still. Sie wartete darauf, dass er sich bewegte, aber er lag vollkommen reglos da. Gewiss war er nur erschöpft. Gewiss war er nicht … tot.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
»Halt!«
Wie erstarrt von dem Befehl, blickte sie fragend zu Balkan auf. Der Krieger runzelte die Stirn, als wolle er sie warnen.
Dann stöhnte Regin, und die Magier auf den Zuschauerrängen stießen einen gemeinschaftlichen Seufzer aus. Sonea schloss die Augen, und eine Welle der Erleichterung schlug über ihr zusammen.
»Sonea hat die Herausforderung gewonnen«, erklärte Balkan.
Langsam und dann mit wachsender Begeisterung begannen die Magier und Novizen in der Arena zu applaudieren. Überrascht sah Sonea sich um.
Ich habe gewonnen, dachte sie. Ich habe wirklich gewonnen!
Sie betrachtete die applaudierenden Magier, Novizen und Nichtmagier: Vielleicht habe ich mehr gewonnen als nur den Kampf. Aber sicher sein konnte sie sich erst später, wenn sie den Flur in der Universität hinunterging und hörte, was die Novizen murmelten, oder wenn sie Regin und seinen Freunden spätabends in einem der Gänge begegnete.
»Ich erkläre dieses Duell für beendet«, verkündete Balkan. Dann trat er von seiner erhöhten Position herunter und gesellte sich zu Garrel und Akkarin. Garrel beantwortete irgendeine Bemerkung des Kriegers mit einem Nicken, dann ging er durch die Arena auf den Ausgang zu, ohne dabei auch nur einen Moment den Blick von dem immer noch reglos am Boden liegenden Regin abzuwenden.
Sonea betrachtete Regin nachdenklich. Sie trat näher an ihn heran und sah, dass sein Gesicht weiß war und er zu schlafen schien. Offensichtlich war er erschöpft, und sie wusste, was für ein schreckliches Gefühl das war. Aber so oft sie auch vollkommen erschöpft gewesen war, sie hatte doch nie das Bewusstsein verloren.
Zögernd, für den Fall, dass er sich verstellte, ging sie neben ihm in die Hocke und berührte zaghaft seine Stirn. Seine Erschöpfung war so gewaltig, dass sein Körper einen Schock davongetragen hatte. Sie ließ ein wenig heilende Energie von ihrer Hand in seinen Körper fließen, um ihn zu stärken.
»Sonea!«
Sie blickte auf. Garrel starrte missbilligend auf sie hinab.
»Was tust …«
»Ngh…«, stöhnte der Junge.
Ohne auf Garrel zu achten, senkte sie den Blick und sah, dass Regins Lider sich flatternd öffneten. Er starrte sie an, dann zog er mühsam die Brauen zusammen.
»Du?«
Sonea lächelte schief und stand auf. Sie verneigte sich vor Garrel und ging an ihm vorbei in die Kühle des Arenaportals.
Während der größte Teil der Zuschauer die Arena verließ, blieben die Höheren Magier zurück. Sie hatten einen Kreis gebildet und erörterten den Kampf.
»Ihre Kräfte haben schneller zugenommen, als ich es für möglich gehalten hätte«, sagte Lady Vinara.
»Ihre Stärke ist tatsächlich erstaunlich für eine Novizin ihres Alters«, stimmte Sarrin ihr zu.
»Wenn sie so stark ist, warum hat sie Regin dann nicht einfach gleich zu Beginn erschöpft?«, fragte Peakin. »Warum hat sie versucht, ihre Stärke zu schonen? Das hat sie zwei Runden gekostet.«
»Weil es bei diesem Kampf nicht darum ging, dass Sonea den Sieg davontrug«, sagte Yikmo leise. »Sondern dass Regin ihn verlor.«
Peakin musterte den Krieger zweifelnd. »Und der Unterschied ist?«
Lorlen lächelte über die Verwirrung des Alchemisten. »Wenn sie ihn einfach mit roher Gewalt in die Knie gezwungen hätte, hätte sie sich damit keinen Respekt verdient. Indem sie den Kampf auf eine andere Ebene - die Ebene des Könnens statt der Stärke - gehoben hat, hat sie bewiesen, dass sie trotz ihres Vorteils bereit war, fair zu kämpfen.«
Vinara nickte. »Sie wusste nicht, wie stark sie wirklich ist, nicht wahr?«
Yikmo lächelte. »Nein, das wusste sie nicht. Nur dass sie stärker war als Regin. Wenn sie gewusst hätte, wie stark sie ist, wäre es ihr schwer gefallen, sich eine Niederlage zu gestatten.«
»Wie stark ist sie denn nun?«
Yikmo blickte vielsagend zu Lorlen hinüber und dann über die Schulter des Administrators hinweg. Als Lorlen sich umdrehte, sah er, dass Balkan und Akkarin näher kamen. Er wusste, dass es nicht Balkan war, den Yikmo angesehen hatte.
»Vielleicht habt Ihr Euch mehr aufgeladen, als Ihr tragen könnt, Hoher Lord«, sagte Sarrin.
Akkarin lächelte. »Das halte ich für unwahrscheinlich.«
»Ihr werdet schon bald anfangen müssen, sie selbst zu unterrichten«, erklärte Vinara.
Akkarin schüttelte den Kopf. »Alles, was sie braucht, kann sie an der Universität lernen. Darüber hinaus gibt es nichts, was ich sie lehren könnte oder was sie von mir lernen wollte - für den Augenblick.«
Bei diesen Worten überlief Lorlen ein kalter Schauer. Er sah Akkarin forschend an, aber nichts in der Miene des Hohen Lords verriet, dass er auf ebenjenes Thema angespielt hatte, das Lorlen fürchtete.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals Verständnis für die Kämpfe und Intrigen der Häuser aufbringen oder gar Gefallen daran finden wird«, stimmte Vinara zu, »obwohl ich die Vorstellung, die Gilde könnte ihre erste Hohe Lady wählen, recht interessant finde.«
Sarrin runzelte die Stirn. »Wir wollen doch ihre Herkunft nicht vergessen.«
Als Vinara die Brauen hob, räusperte sich Lorlen. »Hoffentlich wird das noch für viele Jahre kein Thema sein.« Er wandte sich zu Akkarin um, aber die Aufmerksamkeit des Hohen Lords war abgelenkt worden. Lorlen folgte seinem Blick und sah, dass Sonea auf sie zukam.
Als der Kreis der Magier sich teilte, um ihr Platz zu machen, verneigte sich Sonea.
»Meinen Glückwunsch, Sonea«, brummte Balkan. »Das war ein guter Kampf.«
»Ich danke Euch, Lord Balkan«, erwiderte sie, und ihre Augen leuchteten.
»Wie fühlst du dich?«, wollte Lady Vinara wissen.
Sonea neigte den Kopf zur Seite, dachte kurz nach und zuckte dann die Achseln. »Hungrig, Mylady.«
Vinara lachte. »Dann hoffe ich, dass dein Mentor ein Festessen für dich bereitstehen hat.«
Wenn Soneas Lächeln ein wenig gezwungen ausfiel, so schienen die anderen es jedenfalls nicht zu bemerken. Sie beobachteten stattdessen Akkarin, der sich zu seiner Novizin umdrehte.
»Gut gemacht, Sonea«, sagte er.
»Vielen Dank, Hoher Lord.«
Die beiden musterten einander schweigend, dann senkte Sonea den Blick. Lorlen, der die anderen genau beobachtete, fiel Vinaras wissendes Lächeln auf. Balkan wirkte erheitert, und Sarrin nickte anerkennend.
Lorlen seufzte. Die anderen Magier sahen nur eine junge Novizin, die von ihrem mächtigen Mentor beeindruckt und ein wenig eingeschüchtert war. Würden sie jemals mehr sehen? Er betrachtete den roten Stein an seinem Finger. Wenn sie irgendwann mehr sehen sollten, werde ich nicht derjenige sein, der es ihnen zeigt. Ich bin genauso seine Geisel, wie Sonea es ist.
Er wandte sich wieder zu Akkarin um, und seine Augen wurden schmal. Falls er eines Tages eine Erklärung für all das abgeben sollte, hoffe ich nur, dass er uns wirklich gute Gründe für sein Tun nennen kann.