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»Ja, als Kind habe ich Essen und Geld gestohlen«, erklärte sie und zwang sich, den Kopf hoch zu halten und Issle trotzig anzusehen. »Aber nur, wenn ich großen Hunger hatte oder wenn der Winter nahte und ich Schuhe und warme Kleidung brauchte.

Issles Augen leuchteten triumphierend. »Dann bist du also doch eine Diebin.«

»Aber sie war damals noch ein Kind, Issle«, protestierte Ahrind schwach. »Du würdest ebenfalls stehlen, wenn du nichts zu essen hättest.«

Die anderen wandten sich zu Issle um, aber diese warf lediglich abschätzig den Kopf in den Nacken, dann beugte sie sich zu Sonea vor und bedachte sie mit einem kalten Blick.

»Sag mir die Wahrheit«, verlangte sie. »Hast du jemals jemanden getötet?«

Sonea erwiderte Issles Blick, während Wut in ihr aufstieg. Wenn Issle die Wahrheit erführe, würde das Mädchen vielleicht zögern, bevor sie sie das nächste Mal zu quälen versuchte.

»Ich weiß es nicht.«

Die anderen Novizen starrten Sonea fassungslos an.

»Was soll das heißen?«, fragte Issle höhnisch. »Entweder du hast es getan, oder du hast es nicht getan.«

Sonea sah das Mädchen mit schmalen Augen an. »Also schön, wenn du es unbedingt wissen willst. Eines Nachts vor ungefähr zwei Jahren hat mich ein Mann gepackt und in eine Gasse gezerrt. Er wollte… nun, du kannst davon überzeugt sein, dass er mich nicht nach dem Weg fragen wollte. Als ich eine Hand frei bekam, habe ich ihm mein Messer in den Leib gerammt und bin davongelaufen. Ich bin nicht bei ihm stehen geblieben, deshalb weiß ich nicht, ob er es überlebt hat oder nicht.«

Daraufhin herrschte minutenlang Schweigen an ihrem Tisch. »Du hättest schreien können«, meinte Issle schließlich.

»Glaubst du wirklich, jemand würde sein Leben aufs Spiel setzen, um irgendein armes Mädchen zu retten?«, fragte Sonea kalt. »Der Mann hätte mir die Kehle durchschneiden können, um mich zum Schweigen zu bringen, oder ich hätte mit meinem Schreien nur noch mehr Gesindel angelockt.«

Bina schauderte. »Wie schrecklich.«

Das Mitgefühl des anderen Mädchens entzündete einen schwachen Hoffnungsfunken in Sonea, der bei der nächsten Frage jedoch sogleich wieder erlosch.

»Du trägst ein Messer

Als Sonea den lonmarischen Akzent hörte, drehte sie sich um und blickte in die grünen Augen Elayks. »Jeder tut das. Um Päckchen zu öffnen, Früchte zu schälen…«

»Die Schnüre der Geldbörsen durchzuschneiden«, warf Issle ein.

Sonea sah das Mädchen fest an. Issle erwiderte ihren Blick mit unverhohlener Kälte. Offensichtlich war es reine Zeitverschwendung, der da zu helfen, dachte Sonea.

»Sonea«, erklang plötzlich eine Stimme. »Sieh mal, was ich für dich aufgehoben habe.«

Die Novizen drehten sich um; eine vertraute Gestalt kam mit einem Teller an ihren Tisch geschlendert. Regin grinste, dann stellte er den Teller wortlos vor Sonea hin. Als sie sah, dass Brotkrusten und Essensreste auf dem Teller lagen, schoss ihr die Röte in die Wangen.

»Was bist du für ein großzügiger, wohlerzogener Junge, Regin.« Sie schob den Teller von sich. »Vielen Dank, ich habe bereits gegessen.«

»Aber du hast doch sicher noch Hunger«, sagte er mit geheucheltem Mitgefühl. »Sieh dich doch nur an. Du bist so klein und mager. Du siehst wirklich so aus, als könntest du ein paar anständige Mahlzeiten vertragen. Haben deine Eltern dir nicht genug zu essen gegeben?« Er schob den Teller wieder vor sie hin.

Sonea schob ihn zurück. »Nein, wenn du es genau wissen willst, das haben sie nicht getan.«

»Sie sind tot«, meldete sich einer der anderen Novizen zu Wort.

»Nun, warum nimmst du das Essen nicht mit, falls du später noch einmal Hunger bekommst?« Mit einem schnellen Stoß schob er den Teller über den Rand des Tisches auf Soneas Schoß. Mehrere Novizen kicherten verhalten, als die durchweichten Essensreste sich auf Soneas Robe und auf den Fußboden ergossen und beides mit einer dicken, braunen Soße überzogen. Sonea fluchte, ohne auch nur einen Moment lang an Rothens eindringliche Ermahnungen zu denken, und Issle schnalzte angewidert mit der Zunge.

Gerade als Sonea aufblickte und den Mund zu einer Erwiderung öffnete, ertönte der Gong der Universität.

»Oje!«, rief Regin aus. »Es wird Zeit für den Unterricht. Tut mir Leid, dass wir dich nicht beim Essen beobachten können, Sonea.« Er wandte sich den anderen zu. »Kommt mit! Wir wollen uns doch nicht verspäten, oder?«

Regin ging breitbeinig davon, und die anderen folgten ihm. Schon bald war Sonea die einzige Novizin im Speisesaal. Seufzend stand sie auf, hob ihre Robe und schüttelte das Essen vorsichtig zurück auf den Tisch. Als sie die klebrige braune Soße auf ihrem Gewand betrachtete, fluchte sie abermals leise.

Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte unmöglich in diesem Zustand zum Unterricht erscheinen. Der Lehrer würde sie nur zum Umziehen in ihr Zimmer schicken, was Regin einmal mehr Gelegenheit gäbe, sie zu verspotten. Nein, sie würde als Erstes in Rothens Wohnung laufen und sich eine weniger demütigende Erklärung für ihre Verspätung ausdenken.

In der Hoffnung, dass ihr unterwegs nicht allzu viele Menschen begegnen würden, eilte sie zu den Magierquartieren hinüber.

Als Dannyl hörte, dass die Matrosen sich in der Messe am Ende des Gangs versammelten, unterdrückte er ein Stöhnen. Eine weitere lange Nacht stand ihm bevor. Einmal mehr kam Jano ihn holen, und die Seeleute brachen in Jubel aus, als er sich zu ihnen gesellte. Eine Flasche erschien wie aus dem Nichts und wurde herumgereicht, bis jeder einen Schluck von dem stark riechenden Vindo-Schnaps, dem Siyo, getrunken hatte. Als die Reihe an Dannyl kam, gab er die Flasche direkt an Jano weiter, was ihm gespielte Enttäuschung von Seiten der Matrosen eintrug.

Nachdem alle von dem Siyo getrunken hatten, begannen die Seeleute, sich gutmütig in ihrer abgehackt klingenden Muttersprache zu streiten. Nachdem sie schließlich Einigung erzielt hatten, fingen sie an zu singen und drängten Dannyl, in ihren Gesang mit einzustimmen. An den vergangenen Abenden hatte er nachgegeben, aber diesmal bedachte er Jano mit einem strengen Blick.

»Du hast versprochen, mir den Text zu übersetzen.«

Der Mann grinste. »Lied dir vielleicht nicht gefallen.«

»Das lass mich nur selbst entscheiden.«

Jano zögerte, während er dem Gesang der anderen Männer lauschte. »In Capia hat meine Geliebte rotes, rotes Haar… und Brüste wie Tenn-Säcke. In Tol-Gan hat meine Geliebte starke, starke Beine… und sie schlingt sie mir fest um die Hüften. In Kiko hat meine Geliebte… äh…« Jano zuckte die Achseln. »Ich kenne das Wort nicht, das ihr in eurer Sprache dafür benutzt.«

»Ich kann es mir denken«, erwiderte Dannyl mit einem traurigen Kopfschütteln. »Du brauchst nicht länger für mich zu übersetzen. Ich glaube nicht, dass ich überhaupt wissen will, was ich da singe.«

Jano lachte. »Jetzt erzähl, warum du keinen Siyo trinkst, yai?«

»Siyo riecht stark. Kräftig.«

»Siyo ist kräftig!«, sagte Jano stolz.

»Es ist keine gute Idee, einen Magier allzu betrunken zu machen«, bemerkte Dannyl.

»Warum nicht?«

Dannyl schürzte die Lippen und dachte darüber nach, wie er das Problem so erklären konnte, dass der Vindo ihn verstehen würde.

»Wenn man betrunken ist - sehr betrunken -, sagt und tut man merkwürdige Dinge, vielleicht sogar, ohne es zu beabsichtigen, yai?«

Jano zuckte die Achseln und klopfte Dannyl auf die Schulter. »Keine Sorge. Wir nichts weitererzählen.«

Dannyl schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist nicht ratsam, unbedacht mit Magie umzugehen. So etwas kann sehr gefährlich sein.«

Jano runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen ein wenig. »Also wir dir nur ein klein wenig geben.«

Dannyl lachte. »Einverstanden.«

Jano bedeutete den Matrosen, ihm die Flasche zu reichen. Er wischte die Öffnung mit dem Ärmel ab und gab die Flasche dann an Dannyl weiter.

Dannyl, der nun im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, nahm einen vorsichtigen Schluck. Ein angenehm nussiger Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, bevor ihm die Flüssigkeit heiß die Kehle hinunterrann. Er sog die Luft ein und atmete langsam aus. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Die Matrosen prosteten ihm zu.