»Nicht heiß genug.«
Sonea sah, dass die Flüssigkeit in dem Glas zu einem Purpurton abgekühlt war. Stirnrunzelnd konzentrierte sie sich von neuem, und die Substanz wurde wieder rot.
Regin zuckte auf seinem Stuhl zusammen und heulte vor Schmerz und Überraschung auf. Seine Kerze war verschwunden, und seine Hände waren mit geschmolzenem Wachs überzogen, das er verzweifelt abzuschälen versuchte. Soneas Mundwinkel zuckten, und sie legte hastig eine Hand auf die Lippen.
»Hast du dich verbrannt?«, fragte Elben besorgt. »Wenn du willst, kannst du zu den Heilern gehen.«
»Nein«, antwortete Regin schnell. »Alles in Ordnung.«
Elben hob die Augenbrauen. Dann zuckte er die Achseln, holte eine neue Kerze und stellte sie auf Regins Pult. »Macht euch wieder an die Arbeit«, blaffte er die übrigen Novizen an, die allesamt auf Regins gerötete Hände starrten.
Elben ging zu Soneas Tisch hinüber, blickte auf die Kugel hinab und nickte. »Mach weiter«, sagte er. »Zeig mir, was du kannst.«
Abermals konzentrierte sich Sonea auf die Glaskugel, und die Flüssigkeit erwärmte sich. Elben nickte zufrieden. »Gut. Ich habe noch eine weitere Übung für dich.« Als er zu seiner Schatulle zurückkehrte, sah Sonea, dass Regin sie beobachtete. Wieder stahl sich ein Lächeln auf ihre Züge, und sie bemerkte, dass Regin die Fäuste ballte. Dann klopfte Elben im Vorbeigehen auf das Pult des Jungen.
»Zurück an die Arbeit, und zwar alle.«
Dannyl lehnte sich an die Reling und atmete genüsslich die salzige Luft ein.
»Kranker Bauch draußen nicht so schlimm, yai?«
Er drehte sich um und sah Jano näher kommen; der kleine Mann bewegte sich mit bewundernswerter Leichtfüßigkeit auf dem wankenden Deck.
»Magier nie seekrank sein«, bemerkte Jano, als er ihn erreicht hatte.
»O doch«, gestand Dannyl. »Aber wir können die Übelkeit heilen. Das bedarf jedoch einer gewissen Aufmerksamkeit, und wir können uns nicht ständig darauf konzentrieren.«
»Ah… du nicht krank, wenn denken nicht krank, aber manchmal vergessen denken?«
Dannyl lächelte. »Ja, das stimmt.«
Jano nickte. Hoch oben im Mast läutete einer der Matrosen jetzt eine Glocke und rief einige Worte in der Sprache der Vindo.
»Hat er Capia gesagt?«, fragte Dannyl.
»Capia, yai!« Jano drehte sich um und blickte in die Ferne. »Du sehen?«
Dannyl blickte in die Richtung, in die Jano zeigte, konnte dort aber nichts entdecken als eine in Nebel gehüllte, nichtssagende Küstenlinie. Er schüttelte den Kopf. »Du hast bessere Augen als ich«, sagte er.
»Vindo gut Augen haben«, pflichtete Jano ihm voller Stolz bei. »Deshalb wir Seefahrer.«
»Jano!«, donnerte eine strenge Stimme.
»Gehen muss.«
Dannyl sah dem Vindo nach, dann wandte er sich wieder der Küste zu. Da er die Hauptstadt von Elyne noch immer nicht erkennen konnte, beobachtete er müßig, wie der Bug durch die Wellen schnitt. Das sanfte Spiel der Wogen hatte während der ganzen Reise eine beruhigende und beinahe hypnotische Wirkung auf ihn gehabt, und es faszinierte ihn immer wieder aufs Neue, wie das Meer je nach Tageszeit und Witterung seine Farbe veränderte.
Als er wieder aufblickte, waren sie dem Land näher gekommen, und er konnte winzige, bleiche Rechtecke oberhalb des Ufers ausmachen - ferne Gebäude. Ein Schauer überlief ihn, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Küste kam jetzt immer näher.
Eine große Lücke zwischen den Gebäuden erwies sich als die Einfahrt zu einer vor der Brandung geschützten Bucht. Dannyl hielt den Atem an. Die Häuser zu beiden Seiten bildeten die Arme einer Stadt, die die ganze Bucht umfassten. Hinter einer Schutzmauer zum Wasser hin erhoben sich prächtige Bauten, Kuppeln und hohe Türme, die bis in den Himmel ragten und teilweise durch steinerne Bogengänge miteinander verbunden waren.
»Der Kapitän lässt Euch bitten, zu ihm zu kommen, Mylord.«
Dannyl nickte dem Matrosen, der ihm die Botschaft überbracht hatte, freundlich zu, dann ging er zum Kapitän, der am Steuerrad stand. Ringsum eilten die Seeleute umher, überprüften die Taue und gaben einander kurze Anweisungen in der Sprache der Vindo.
»Ihr habt mich rufen lassen, Kapitän?«
Der Mann nickte. »Ich möchte lediglich, dass Ihr hier bleibt, wo Ihr niemandem im Weg seid, Mylord.«
Dannyl stellte sich auf den Platz, den Numo ihm zugewiesen hatte, und beobachtete das Geschehen. Numo brüllte einen Befehl in seiner Muttersprache und machte sich daran, das Rad zu drehen. Die Mannschaft gehorchte auf der Stelle. Seile wurden angezogen, und die Segel schwangen langsam herum und fielen kurz zusammen, als kein Wind mehr in ihnen stand. Das Schiff schwankte und neigte sich zur Seite.
Dann füllten sich die Segel wieder. Die Mannschaft belegte die Leinen, mit denen die Segel geführt wurden, und wartete dann auf weitere Befehle.
Als sie der Küste deutlich näher gekommen waren, wurde die Prozedur wiederholt. Diesmal glitt das Schiff mühelos in die Bucht. Der Kapitän drehte sich zu Dannyl um.
»Seid Ihr schon einmal in Capia gewesen, Mylord?«
Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein.«
Numo deutete auf die Stadt. »Hübsch.«
Inzwischen waren schlichte Fassaden und Säulen in Sicht gekommen. Im Gegensatz zu den vornehmen Häusern von Kyralia waren nur wenige der Gebäude kunstvoll verziert; dafür hatte man einige Türme und Kuppeln spiral- und fächerförmig angelegt.
»Bei Sonnenuntergang ist die Stadt noch schöner«, erklärte Numo. »Ihr solltet Euch einmal abends ein Boot mieten und Euch einen Sonnenuntergang ansehen.«
»Das werde ich tun«, erwiderte Dannyl leise. »Das werde ich ganz gewiss tun.«
Die Mundwinkel des Kapitäns zuckten, so dass es beinahe so aussah, als lächelte er, eine Regung, die Dannyl bei dem Mann bisher noch nie gesehen hatte. Er wurde jedoch schnell wieder ernst und erteilte seinen Matrosen neuerliche Befehle. Die Segel wurden von unten nach oben ein Stück zusammengerollt, um die Segelfläche zu verkleinern. Das Schiff verlangsamte sein Tempo und glitt auf eine Lücke zwischen den vielen tausend Booten zu, die in der Bucht vor Anker lagen. An der Kaimauer vor ihnen waren bereits etliche andere Schiffe vertäut.
»Holt jetzt Eure Sachen aus Eurer Kajüte«, sagte Numo über die Schulter hinweg. »Wir legen bald an, Mylord. Wir schicken jemanden zu Euren Leuten, damit sie Euch abholen kommen.«
»Vielen Dank, Kapitän.« Dannyl ging in seine Kajüte hinunter. Während er sich davon überzeugte, dass er alles eingepackt hatte, spürte er, wie das Schiff seine Fahrt verlangsamte und beidrehte. Schließlich ging ein leichter Ruck durch das Schiff. Sie hatten am Kai angelegt.
Als Dannyl wieder aufs Deck kam, machten die Matrosen das Schiff gerade mit langen Trossen an schweren Eisenringen an der Kaimauer fest. An die Schiffswand waren zum Kai hin große, aufgeblähte Säcke gehängt worden, zum Schutz der hölzernen Beplankung des Schiffsrumpfes. An der Kaimauer verlief etwas unterhalb des Decks ein schmaler Gang, von dem aus an beiden Enden eine Treppe nach oben auf den Kai führte.
Der Kapitän und Jano standen an der Reling. »Ihr könnt jetzt gehen, Mylord«, sagte Numo und verneigte sich. »Es war mir eine Ehre, Euch an Bord zu haben.«
»Danke«, erwiderte Dannyl. »Es war mir eine Ehre, mit Euch zu fahren, Kapitän Numo«, fügte er auf Vindo hinzu. »Ich wünsche Euch weiterhin gute Fahrt.«
Numos Augen weiteten sich vor Überraschung. Dann verneigte er sich steif und ging davon.
Jano grinste. »Er dich mögen. Magier sonst nie versuchen sein höflich mit uns.«
Dannyl nickte. Diese Mitteilung erstaunte ihn keineswegs. Während vier Matrosen mit Dannyls Gepäck erschienen, bedeutete Jano Dannyl, ihm zu folgen, und sie gingen nacheinander über die Laufplanke zu dem schmalen Gang auf halber Höhe der Kaimauer hinüber. An Land blieb Dannyl nach einigen Schritten stehen, denn er hatte das Gefühl, dass die Mauer unter seinen Füßen schwankte und schlingerte. Er trat beiseite, um die Matrosen mit den Truhen vorbeigehen zu lassen. Jano drehte sich nach ihm um, und als er Dannyls verwirrte Miene sah, lachte er.