— Rothen!
Rothen hielt jäh inne und konzentrierte sich auf die Stimme in seinem Kopf.
— Dannyl?
— Hallo, alter Freund.
Während Rothen seinen Geist auf die Stimme ausrichtete, wurde sie klarer, und Dannyls Persönlichkeit trat deutlicher hervor. Außerdem wurde die Anwesenheit anderer Magier wahrnehmbar, die Dannyls Ruf ebenfalls aufgefangen hatten, sich aber bald wieder zurückzogen.
— Ich hatte eigentlich erwartet, dass du dich früher bei mir melden würdest. Ist dein Schiff aufgehalten worden?
— Nein, ich bin schon vor zwei Wochen angekommen. Allerdings hatte ich seither keine freie Minute mehr. Der erste Botschafter hat so viele Zusammenkünfte und Einweisungen arrangiert, dass ich kaum Schritt halten kann. Ich glaube, er findet es enttäuschend, dass ich tatsächlich bisweilen etwas Schlaf brauche.
Rothen verkniff sich die Frage, ob der erste Botschafter der Gilde in Elyne tatsächlich so korpulent geworden war, wie man es sich in Imardin erzählte. Bei der Gedankenrede bestand immer die Gefahr, dass andere Magier lauschten.
— Hast du schon viel von Capia zu sehen bekommen?
— Ein wenig. Die Stadt ist genauso schön, wie man es allgemein hört. Das Bild einer aus gelbem Stein gebauten Stadt mit blauem Wasser und Booten formte sich in Rothens Geist.
— Bist du schon bei Hof gewesen?
— Nein, die Tante des Königs ist vor einigen Wochen gestorben, und er war bisher noch in Trauer. Ich werde ihn heute aufsuchen. Das dürfte interessant werden.
Eine gewisse Selbstgefälligkeit begleitete diese Worte, und Rothen wusste, dass sein Freund an all die Skandale und Gerüchte über die Menschen am Hof von Elyne dachte, die er bereits vor seiner Abreise aus Kyralia in Erfahrung gebracht hatte.
— Wie geht es Sonea?
— Ihre Lehrer rühmen ihre Fähigkeiten, aber sie hat einen Unruhestifter in ihrer Klasse. Er hat die anderen Novizen auf seine Seite gezogen.
— Kannst du irgendetwas dagegen tun? Mitgefühl und Verständnis waren in Dannyls Worten zu spüren.
— Sie hat mich soeben gefragt, ob ich ihr dabei helfen würde, in die nächste Klasse vorzurücken.
— Armer Rothen! Das bedeutet harte Arbeit - für euch beide.
— Ich komme schon zurecht. Ich hoffe nur, dass die Winternovizen Sonea nicht genauso unfreundlich begegnen werden.
— Grüß sie von mir. Dannyls Konzentration ließ nach. Ich muss jetzt Schluss machen. Bis bald.
— Bis bald.
Rothen packte seine Bücher zusammen und ging zu Tür hinüber. Bei der Erinnerung an den unbeliebten, verdrossenen Novizen, der Dannyl einst gewesen war, fühlte er sich ein klein wenig besser. Soneas Situation mochte im Augenblick sehr hart sein, aber am Ende würden sich die Dinge von selbst regeln.
»Tayend von Tremmelin, wie?« Errend, der erste Botschafter der Gilde in Elyne, rutschte auf seinem Platz hin und her, und die Schärpe, die er über seinen Roben trug, spannte sich über seinem mächtigen Bauch. »Er ist der jüngste Sohn von Dem Tremmelin. Ein Gelehrter an der Großen Bibliothek, wie ich glaube. Bei Hof findet man ihn nur selten - obwohl ich ihn mit Dem Agerralin gesehen habe. Also, das ist nun wirklich ein Mann mit zweifelhaften Verbindungen.«
Zweifelhafte Verbindungen? Dannyl öffnete den Mund, um nachzuhaken, aber in diesem Moment fuhr die Kutsche um eine Kurve, und der massige Mann an seiner Seite verlor jedes Interesse an diesem Thema.
»Der Palast!«, rief er aus und zeigte auf das Fenster. »Ich werde Euch dem König vorstellen, und dann könnt Ihr Euch nach eigenem Belieben unter die Gäste mischen. Ich habe einen Termin, der den größten Teil des Nachmittags in Anspruch nehmen wird, also zögert nicht, mit der Kutsche zurückzufahren, wenn Ihr genug habt. Erinnert den Fahrer nur daran, dass er mich abholen soll, wenn es anfängt zu dämmern.«
Der Schlag wurde geöffnet, und Dannyl stieg nach Errend aus. Vor ihnen lag an einer Seite dieses riesigen Innenhofes der Palast, ein weit verzweigtes Gebäude mit vielen Kuppeln und Balkons, das man über eine lange, breite Treppe erreichte. Prächtig gewandete Menschen gingen die Stufen hinauf oder legten auf eigens zu diesem Zweck gebauten steinernen Sitzen eine Pause ein. Dannyl wandte sich zu seinem Begleiter um und stellte fest, dass Errend an seiner Seite dicht über dem Boden schwebte. Dannyls Erstaunen entlockte dem ersten Botschafter ein Lächeln.
»Warum laufen, wenn es nicht unbedingt sein muss!«
Während der Mann die Treppe hinaufschwebte, betrachtete Dannyl die Gesichter der Höflinge und Diener um ihn herum. Sie schienen nicht weiter überrascht zu sein über diese Verwendung von Magie, obwohl einige von ihnen ein Lächeln verbargen, als sie den Botschafter sahen. Errend war nicht nur ein ausgesprochen gewichtiger und wohlgelaunter Mensch, sondern offensichtlich auch ein starker und begabter Magier. Dannyl fand die Leistung des anderen Mannes zwar durchaus beeindruckend, aber es widerstrebte ihm, sich durch ein derart auffälliges Benehmen in den Mittelpunkt zu stellen. Daher beschloss er, lieber seine Beine zu benutzen.
Errend erwartete ihn oben an der Treppe und deutete mit ausladender Geste auf das Palastgelände.
»Was für eine Aussicht! Ist das nicht herrlich?«
Dannyl - vom Treppensteigen außer Atem - drehte sich um. Die ganze Bucht lag vor ihm ausgebreitet. Die hellgelben Gebäude glänzten im Sonnenlicht, und das Wasser war von einem leuchtenden Blau.
»›Die Halskette eines Königs‹, hat der Dichter Lorend diese Stadt einmal genannt.«
»Die Stadt ist tatsächlich wunderschön«, pflichtete Dannyl ihm bei.
»Und voller schöner Menschen«, ergänzte Errend. »Kommt mit hinein. Ich will Euch den anderen Gästen vorstellen.«
Vor ihnen erhob sich eine von hohen, tief herabreichenden Bogen unterteilte Fassade, die prächtigste, die Dannyl je gesehen hatte. Hinten dem höchsten Bogen führte ein tor- und türloser Eingang in den Palast.
Unter den Blicken sechs regloser Wachen folgte Dannyl dem ersten Botschafter in eine höhlenartige, weitläufige und luftige Halle. Zu beiden Seiten waren darin Springbrunnen und steinerne Skulpturen aufgestellt, zwischen denen von Bogen eingerahmte Durchgänge in weitere Räume und Flure führten. In Wandnischen und großen Töpfen auf dem Steinboden wuchsen Dannyl unbekannte Pflanzen.
Errend setzte seinen Weg durch die Halle fort. Männer und Frauen standen in Gruppen beisammen oder schlenderten durch den Saal, einige davon mit Kindern. Alle waren prächtig gekleidet. Als Dannyl an ihnen vorbeiging, musterten sie ihn neugierig, und einige von ihnen machten eine elegante Verbeugung in seine Richtung.
Hier und da entdeckte er Roben der Gilde, Frauen in Grün, Männer in Rot oder Purpur. Den Magiern, die ihn grüßten, nickte er seinerseits höflich zu. An jeder Tür standen uniformierte Wachen, die das Geschehen aufmerksam verfolgten. Einzelne Musikanten wanderten umher, spielten auf Saiteninstrumenten oder sangen leise. Ein Kurier, dessen Gesicht schweißüberströmt war, eilte vorbei.
Am Ende der Halle angekommen, führte Errend Dannyl durch einen weiteren Torbogen in einen kleineren Raum. Dort fanden sie sich einer Doppeltür gegenüber, die das Zeichen des Königs von Elyne trug: einen Fisch, der über eine Traube praller Weinbeeren sprang. Ein Wachposten, auf dessen Brustpanzer das gleiche Zeichen zu sehen war, trat vor und fragte nach Dannyls Namen.
»Lord Dannyl, zweiter Botschafter der Gilde in Elyne«, erwiderte Errend.