Der Tonfall des Mannes war eindeutig hoffnungsvoll. Dannyl begriff, dass er den Dem ungläubig anstarrte, und wandte hastig den Blick ab. Wenn ein Höfling in Kyralia eine solche Frage gestellt hätte, hätte daraus ein Skandal entstehen können, der die Ehre eines Mannes zerstören und das Ansehen seines Hauses herabsetzen konnte. Also hätte Dannyl eigentlich mit Zorn reagieren und Agerralin erklären müssen, dass solche Fragen schlicht und einfach ungehörig seien.
Als Fergun seinerzeit diese Gerüchte in Umlauf brachte, war Dannyl voller Wut und Bitterkeit gewesen, aber seit man den Krieger zur Strafe für seine Erpressung Soneas fortgeschickt hatte, waren diese Gefühle verblichen. Außerdem hatten die Höheren Magier ihn zum Botschafter der Gilde ernannt, und das, obwohl er noch immer keine Ehefrau gefunden hatte, um auch noch den letzten Verdacht gegen ihn zu zerstreuen.
Dannyl überlegte, wie er antworten sollte. Er wollte den Mann nicht kränken. Die Elyner hatten offensichtlich weniger Vorurteile als die Kyralier, aber wie weit ging ihre Toleranz? Botschafter Irand hatte Dem Agerralin als Mann von »zweifelhaften Verbindungen« bezeichnet, was gewisse Schlüsse zuließ. In jedem Fall wäre es töricht, sich gleich an seinem ersten Tag bei Hof einen Feind zu machen.
»Ich verstehe«, sagte Dannyl langsam. »Ich denke, ich weiß, worauf sich das Gerücht bezieht. Wie es aussieht, werde ich diese Geschichte niemals los, obwohl sie jetzt zehn - nein, fünfzehn - Jahre zurückliegt. Die Gilde ist, wie Ihr sicher wisst, sehr konservativ eingestellt. Dem Novizen, der diese Gerüchte in Umlauf gebracht hat, war klar, dass er mir damit große Schwierigkeiten bereiten würde. Er neigte dazu, alle möglichen Geschichten über mich zu erfinden.«
Der Mann nickte, und seine Schultern sanken herab. »Verstehe. Nun, dann verzeiht mir bitte, dass ich dieses schmerzliche Thema angeschnitten habe. Ich habe gehört, dass der ehemalige Novize, von dem Ihr sprecht, jetzt in den Bergen lebt - in einer Festung, glaube ich. Auch über diesen Mann haben wir uns unsere Gedanken gemacht, da derjenige, der andere am lautesten verunglimpft, häufig selbst…«
Ein Mann näherte sich ihnen, und Dem Agerralin ließ seinen Satz unvollendet. Dannyl blickte auf und stellte zu seiner Überraschung fest, dass der Neuankömmling Tayend war. Einmal mehr beeindruckte ihn das verblüffend gute Aussehen des Gelehrten. Gekleidet in ein dunkelblaues Gewand, das rotblonde Haar im Nacken zusammengebunden, schien Tayend am Hof des Königs genau am richtigen Ort zu sein. Der Gelehrte verbeugte sich anmutig, dann lächelte er.
»Botschafter Dannyl, Dem Agerralin.« Tayend nickte ihnen beiden zu. »Wie geht es Euch, Dem?«
»Gut«, antwortete der Mann. »Und Euch? Wir haben Euch schon seit einer Weile nicht mehr bei Hof gesehen, junger Tremmelin.«
»Bedauerlicherweise beanspruchen meine Pflichten in der Großen Bibliothek all meine Zeit.« Tayend klang ganz und gar nicht so, als bedaure er diesen Umstand. »Ich fürchte, ich muss Euch Botschafter Dannyl jetzt entführen, Dem. Es gibt da eine Angelegenheit, über die ich mit ihm reden müsste.«
Dem Agerralin sah Dannyl mit undeutbarer Miene an. »Ich verstehe. Dann muss ich Euch jetzt auf Wiedersehen sagen, Botschafter.« Er verneigte sich und schlenderte davon.
Tayend wartete, bis der Mann außer Hörweite war, dann musterte er Dannyl mit schmalen Augen. »Da ist etwas, das Ihr über Dem Agerralin wissen solltet.«
Dannyl lächelte schief. »Ja, ich glaube, das hat er mir soeben klar gemacht.«
»Ah.« Tayend nickte. »Und hat er die Gerüchte zur Sprache gebracht, die Euch selbst betreffen?« Als Dannyl unwillig die Stirn runzelte, nickte der Gelehrte. »Das dachte ich mir.«
»Redet denn hier jeder über dieses Thema?«
»Nein, nur einige wenige Leute in gewissen Kreisen.« Dannyl war sich nicht sicher, ob er über diese Feststellung erleichtert sein sollte. »Diese Anschuldigungen wurden vor etlichen Jahren erhoben. Es überrascht mich, dass sie überhaupt bis an den Hof von Elyne vorgedrungen sind.«
»Eigentlich sollte Euch das nicht wundern. Der Gedanke, ein kyralischer Magier könnte ein ›Knabe‹ sein - was bei uns ein höflicher Ausdruck für Männer wie Agerralin ist -, ist durchaus erheiternd. Aber keine Sorge. Das Ganze klingt wirklich nach einem ganz gewöhnlichen Streit unter Jungen. Wenn ich das sagen darf, Ihr geht für einen Kyralier erstaunlich gelassen mit der Situation um. Ich hatte halb befürchtet, dass Ihr den armen Agerralin zu Asche verbrennen würdet.«
»Wenn ich das täte, würde ich nicht lange Botschafter der Gilde bleiben.«
»Nein, aber Ihr scheint nicht einmal wütend zu sein.«
Wieder fragte sich Dannyl, wie er darauf antworten sollte. »Wenn Ihr Euer halbes Leben damit zugebracht hättet, solche Gerüchte abzustreiten, würdet Ihr gewiss auch Mitleid mit der Art von Mensch empfinden, die man selbst angeblich sein soll. Ich stelle es mir schrecklich vor, mit Neigungen leben zu müssen, die nicht akzeptabel sind, und dazu gezwungen zu sein, sie entweder zu leugnen oder mit schwierigen Manövern zu verbergen.«
»So betrachtet man dergleichen Dinge in Kyralia, aber nicht hier«, sagte Tayend lächelnd. »Der Hof von Elyne ist gleichzeitig schrecklich in seiner Dekadenz und wunderbar in seiner Freiheit. Wir erwarten geradezu, dass jeder Mensch einige interessante oder exzentrische Gewohnheiten hat. Wir lieben Klatsch und Tratsch, und doch geben wir nicht allzu viel auf Gerüchte. Tatsächlich haben wir hier sogar ein Sprichwort: ›Jedes Gerücht enthält ein Körnchen Wahrheit; es ist nur schwierig herauszufinden, welches der vielen Körnchen das wahre ist.‹ Also, wann darf ich mit Eurem Besuch in der Bibliothek rechnen?«
»Sehr bald«, antwortete Dannyl.
»Ich freue mich schon darauf, Euch dort zu sehen.« Tayend trat einen Schritt zurück. »Aber jetzt muss ich mich erst einmal um eine andere Angelegenheit kümmern. Bis dahin, Botschafter Dannyl.« Er verneigte sich.
»Bis dahin«, erwiderte Dannyl.
Während der Gelehrte mit raschen Schritten davonging, sah Dannyl ihm kopfschüttelnd nach. Er selbst hatte Gerüchte und Spekulationen über die elynischen Höflinge gesammelt wie kleine Trophäen, ohne je auf den Gedanken zu kommen, dass sie das Gleiche tun könnten, was ihn betraf. Wusste der gesamte Hof von dem Gerücht, das Fergun vor so vielen Jahren in Umlauf gesetzt hatte? Die Tatsache, dass man noch immer darüber sprach, erfüllte Dannyl mit Unbehagen, und er konnte nur darauf vertrauen, dass Tayend Recht hatte und der Hof solche Geschichten nicht allzu ernst nahm.
Mit einem Seufzer trat er durch die Palasttore und ging die lange Treppe zu seiner Kutsche hinunter.
7
Die Große Bibliothek
Sonea drückte ihre Bücher fester an sich. Sie war wieder einmal den ganzen Tag Opfer böser Streiche und Ziel von Beleidigungen gewesen. Die kommende Woche lag wie eine endlose Prüfung vor ihr. Dies war erst die fünfte Woche, rief sie sich ins Gedächtnis. Fünf lange Jahre standen ihr bis zu ihrem Abschluss noch bevor.
Jeder Tag war kräftezehrend. Sie tat ihr Möglichstes, um Regin und den anderen Novizen aus dem Weg zu gehen. Wenn der Lehrer das Klassenzimmer auch nur für eine Minute verließ, nutzte Regin die Zeit, um sie zu schikanieren. Sie hatte gelernt, ihre Notizen außerhalb seiner Reichweite zu halten und äußerste Vorsicht walten zu lassen, wann immer sie durch den Raum ging oder sich auf ihren Stuhl setzte.
Für eine Weile war es ihr gelungen, Regin jeden Tag für eine Stunde zu entrinnen, indem sie in der Mittagspause in Rothens Quartier zurückkehrte, um mit Tania zu essen. Aber dann hatte Regin sich angewöhnt, ihr auf dem Weg zwischen dem Magierquartier und der Universität aufzulauern. Einige Male hatte sie versucht, über Mittag im Klassenzimmer zu bleiben, aber sobald Regin dahintergekommen war, wartete er, bis der Lehrer fort war, und kehrte dann selbst zurück, um sie zu peinigen.
Zu guter Letzt hatte sie mit Rothen vereinbart, dass sie sich in Zukunft während der Mittagspause in seinem Klassenzimmer mit ihm treffen würde. Sie half ihm, die Versuchsanordnungen aus Phiolen und Glasrohren abzubauen, die er für seinen Unterricht benötigt hatte. Tania brachte ihnen dann in kleinen, lackierten Dosen Leckereien zum Essen ins Klassenzimmer.