Sonea wurde zuerst kalt, dann heiß, als Wut in ihr aufwallte. Sie ballte die Fäuste und widerstand dem Drang, sich umzudrehen. Was konnte sie schon tun? Ihn schlagen? Selbst wenn sie es gewagt hätte, den Sohn eines der Häuser mit Magie anzugreifen, würde er den Schlag kommen sehen und sich mit einem Schild davor schützen. Und dann würde er wissen, wie sehr er sie getroffen hatte.
Das leise Murmeln der älteren Novizen folgte ihr durch den Korridor. Sie zwang sich, den Blick auf die Treppe gerichtet zu halten, denn sie wollte die Spekulationen in ihren Gesichtern nicht sehen. Sie würden nicht glauben, was Regin da angedeutet hatte. Sie konnten es nicht glauben. Selbst wenn sie aufgrund ihrer Herkunft von ihr das Schlimmste dachten, würde doch niemand Rothen etwas Derartiges unterstellen.
Oder vielleicht doch?
»Administrator!«
Lorlen blieb am Eingang der Universität stehen und wandte sich Rektor Jerrik zu. »Ja?«
Der Rektor trat einen Schritt näher und reichte Lorlen ein Blatt Papier. »Ich habe gestern diesen Antrag von Lord Rothen erhalten. Er möchte, dass Sonea in die Klasse der Winternovizen aufrückt.«
»Wirklich?« Lorlen überflog die Seite, auf der Rothen seine Erklärungen und Zusagen niedergeschrieben hatte. »Glaubt Ihr, dass sie dazu in der Lage ist?«
Jerrik schürzte nachdenklich die Lippen. »Möglicherweise. Ich habe mich bei den Lehrern des ersten Jahrgangs erkundigt, und sie sind alle der Meinung, dass sie es schaffen könnte, wenn sie hart arbeitet.«
»Und Sonea selbst?«
»Sie scheint vollauf gewillt zu sein, die notwendige Arbeit zu tun.«
»Dann werdet Ihr es gestatten?«
Jerrik senkte die Stimme. »Wahrscheinlich. Was mir an der ganzen Angelegenheit nicht gefällt, ist der wahre Grund hinter dem Wechsel.«
»Und was wäre das für ein Grund?« Lorlen verkniff sich ein Lächeln. Jerrik hatte stets behauptet, dass Novizen niemals nur um des Lernens willen hart arbeiten würden. Was sie antrieb, war der Wunsch, andere zu beeindrucken, ihren Eltern zu gefallen oder in irgendeinem Fach am besten abzuschneiden.
»Wie erwartet kommt sie nicht gut mit den anderen Novizen zurecht. Unter solchen Umständen wird der zurückgewiesene Novize häufig zum Gegenstand des Spotts für andere. Ich glaube, sie möchte nur von ihren Klassenkameraden weg.« Jerrik seufzte. »Obgleich ich ihre Entschlossenheit bewundere, mache ich mir doch Sorgen, dass die Winterklasse sie vielleicht nicht besser aufnehmen wird. In dem Fall hätte sie ganz umsonst so hart gearbeitet.«
»Ich verstehe.« Lorlen dachte über Jerriks Worte nach. »Sonea ist einige Jahre älter als die anderen Schüler ihrer Klasse, und sie ist sehr reif für ihr Alter. Die meisten Novizen sind kaum mehr als Kinder, wenn sie hierher kommen, aber während des ersten Jahres verlieren sie einen großen Teil ihrer kindlichen Angewohnheiten. Mit den Winternovizen wird es vielleicht weniger Ärger geben.«
»Das stimmt, es ist eine vernünftige Gruppe«, pflichtete Jerrek ihm bei. »Man kann die Ausbildung in Magie jedoch nicht beschleunigen. Sonea kann sich natürlich Wissen aneignen, aber wenn sie es noch nicht gelernt hat, ihre Kräfte ausreichend zu beherrschen, wird sie später vielleicht gefährliche Fehler machen.«
»Sie benutzt ihre Kräfte nun schon seit über sechs Monaten«, rief Lorlen ihm ins Gedächtnis. »Obwohl Rothen ihr in dieser Zeit die grundlegenden Dinge beigebracht hat, die sie für die Universität benötigte, sind ihre Kräfte ihr unterdessen gewiss vertraut geworden - und es könnte frustrierend sein, mit ansehen zu müssen, wie die anderen Novizen sich noch mit Anfängerlektionen herumplagen.«
»Dann sprecht Ihr Euch also für diesen Plan aus?« Er deutete auf Rothens Antrag.
»Das tue ich.« Lorlen reichte den Antrag zurück. »Gebt ihr diese Chance. Ich denke, Ihr werdet feststellen, dass Sonea mehr kann, als Ihr erwartet.«
»Dann werde ich es gestatten«, antwortete Jerrik. »Man wird sie in fünf Wochen prüfen. Vielen Dank, Administrator.«
Lorlen lächelte. »Ich möchte wissen, wie gut sie abschneidet. Würdet Ihr mich auf dem Laufenden halten?«
Der alte Mann nickte. »Wenn Ihr das wünscht.«
»Ich danke Euch, Rektor.« Lorlen wandte sich ab und ging die Außentreppe zu der wartenden Kutsche hinunter. Er stieg ein, klopfte ans Dach und lehnte sich auf der Sitzbank zurück, während die Kutsche sich in Bewegung setzte. Der Wagen fuhr durch die Tore der Gilde und weiter in die Stadt hinein, aber Lorlen war bereits zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um sich dessen bewusst zu sein.
Die Einladung zum Abendessen bei Derril war am vergangenen Tag gekommen. Lorlen musste solche Bitten häufig ablehnen, da ihm einfach keine Zeit dazu blieb, aber heute hatte er sich von seinen übrigen Verpflichtungen freigemacht. Wenn Derril neue Nachrichten über die Morde hatte, wollte Lorlen sie hören.
Derrils Bericht über den Mörder hatte Lorlen zutiefst erschreckt. Die Schnitte, die dem Opfer zugefügt worden waren, das seltsame Ritual und die Meinung der Zeugin, dass das Opfer bereits tot gewesen sei, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wurde… Vielleicht erschienen ihm diese Morde nur deshalb so verdächtig, weil in seinem Kopf bereits der Gedanke an schwarze Magie herumspukte.
Aber wenn diese Taten das Werk eines schwarzen Magiers waren, gab es nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder lauerte ein wilder Magier, der sich auf schwarze Magie verstand, den Bewohnern der Stadt auf, oder dieser Mörder war Akkarin. Mit einem Schaudern dachte Lorlen über die Konsequenzen dieser beiden Möglichkeiten nach.
Als die Kutsche stehen blieb, war er überrascht, dass sie ihr Ziel bereits erreicht hatten. Der Fahrer kletterte von seinem Sitz und öffnete die Tür.
Lorlen stieg vor einem eleganten Herrenhaus aus, wo ihn bereits einer von Derrils Dienern erwartete. Der Mann führte Lorlen durch das Haus zu einem Balkon mit Blick auf den Garten. Lorlen trat ans Geländer und betrachtete die erschlaffte kleine Oase grüner Vegetation; die Pflanzen sahen traurig und vertrocknet aus.
»Ich fürchte, dieser Sommer war für die meisten meiner Blumen zu viel«, sagte Derril bedauernd, nachdem er den Administrator begrüßt hatte. »Meine Gan-Gan-Büsche werden die Hitze wohl nicht überleben. Ich werde mir aus den Bergen von Lan neue schicken lassen müssen.«
»Ihr solltet sie rausziehen lassen, bevor die Wurzeln verderben«, meinte Lorlen. »Gemahlene Gan-Gan-Wurzeln haben erstaunliche antiseptische Eigenschaften, und wenn man sie zu einem Becher Sumi gibt, sind sie ein gutes Mittel gegen Verdauungsstörungen.«
Derril kicherte. »Ihr habt Eure Ausbildung in der Heilkunst noch nicht vergessen, wie?«
»Nein.« Lorlen lächelte. »Ich mag zwar langsam zu einem schrulligen alten Administrator werden, aber ich habe die Absicht, gesund zu bleiben. Zu irgendetwas müssen all meine medizinischen Kenntnisse schließlich gut sein.«
»Hm.« Derrils Augen wurden schmal. »Ich wünschte, die Garde hätte jemanden mit Euren Kenntnissen in ihren Reihen. Barran hat es wieder mit einem neuen Rätsel zu tun.«
»Noch ein Mord?«
»Ja und nein«, seufzte Derril. »Sie glauben, diesmal handele es sich um einen Selbstmord. Zumindest sieht es danach aus.«
»Vermutet Barran, dass jemand eben diesen Eindruck erwecken wollte?«
»Möglicherweise.« Derril zog eine Augenbraue in die Höhe. »Barran ist zum Essen gekommen. Wie wäre es, wenn wir ihn bitten würden, Euch mehr darüber zu erzählen?«
Lorlen nickte und folgte dem alten Mann ins Haus. Sie kamen in einen großen Empfangsraum, dessen Fenster mit bunt bemalten Papierblenden bedeckt waren. In einem der luxuriösen Sessel saß ein junger Mann von Mitte zwanzig. Seine breiten Schultern und die leicht gebogene Nase erinnerten Lorlen sofort an den Bruder des Mannes, Walin.
Barran blickte zum Administrator auf, dann erhob er sich hastig und verbeugte sich. »Seid mir gegrüßt, Administrator Lorlen«, sagte er. »Wie geht es Euch?«
»Danke der Nachfrage«, erwiderte Lorlen.
»Barran«, sagte Derril, während er Lorlen bedeutete, Platz zu nehmen. »Der Administrator interessiert sich für diesen Selbstmord, den du untersuchst. Kannst du ihm Näheres darüber erzählen?«