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Barran zuckte die Achseln. »Es ist kein Geheimnis - nur ein Rätsel.« Er sah Lorlen beunruhigt an. »Eine Frau hat einem Wachposten in ihrer Straße Meldung gemacht, dass sie ihre Nachbarin tot aufgefunden habe. Der Wachposten ist der Sache nachgegangen, und es hat sich herausgestellt, dass die Frau sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte.« Barran hielt kurz inne. »Das Rätsel besteht darin, dass sie nicht allzu viel Blut verloren hatte und noch warm war. Tatsächlich waren ihre Wunden nicht besonders tief. Sie hätte eigentlich nicht sterben dürfen.«

Lorlen dachte darüber nach. »Die Klinge könnte vergiftet gewesen sein.«

»Diese Möglichkeit haben wir in Betracht gezogen, aber wenn das tatsächlich der Fall war, muss es ein Gift gewesen sein, von dem wir noch nie gehört haben. Alle Gifte hinterlassen Spuren, selbst wenn die Schäden sich nur in den inneren Organen zeigen. Wir haben keine Waffe gefunden, an der sich vielleicht noch Überreste befunden hätten, und das allein ist seltsam. Wenn jemand sich die Pulsadern aufschneidet, findet man das Werkzeug, das er zu diesem Zweck benutzt hat, im Allgemeinen ganz in der Nähe. Wir haben das Haus durchsucht und nichts gefunden als einige Küchenmesser, die sauber an Ort und Stelle lagen. Und erwürgt wurde die Frau auch nicht, soweit wir feststellen konnten. Aber es gibt noch andere Einzelheiten, die meinen Verdacht erregt haben. Ich habe Fußabdrücke gefunden, die weder von den Dienern noch von Freunden oder Verwandten stammen können. Die Schuhe des Eindringlings waren alt und von seltsamer Form, so dass sie unverkennbare Spuren hinterlassen haben. In dem Raum, in dem die Frau gefunden wurde, war das Fenster nicht ganz geschlossen. Darüber hinaus habe ich Fingerabdrücke und Flecken auf dem Fenstersims gefunden, die wie getrocknetes Blut aussahen, deshalb habe ich noch einmal einen Blick auf die Leiche geworfen - und dabei die gleichen Fingerabdrücke auf ihren Handgelenken entdeckt.«

»Ihre eigenen?«

»Nein, die Fingerabdrücke waren sehr groß. Sie müssen von einem Mann stammen.«

»Vielleicht hat jemand versucht, die Blutung zu stillen, und ist dann durch das Fenster geflüchtet, als er jemanden näher kommen hörte?«

»Möglicherweise. Aber das Fenster liegt im zweiten Stock, und die Mauer ist so glatt, dass man kaum daran hinunterklettern könnte. Ich glaube, dass nicht einmal ein erfahrener Dieb dazu in der Lage gewesen wäre.«

»Habt Ihr unten irgendwelche Fußabdrücke entdeckt?«

Der junge Mann zögerte, bevor er antwortete. »Als ich das Gelände um das Haus herum abgesucht habe, habe ich etwas ausgesprochen Merkwürdiges gefunden.« Barran zeichnete mit der Hand einen Bogen in die Luft. »Es war, als sei die Erde innerhalb eines sehr akkuraten Kreises gleichmäßig eingeebnet worden. In der Mitte des Kreises befanden sich zwei Fußabdrücke, die gleichen wie in dem Raum oben, und weitere Spuren, die von der Stelle wegführten. Ich bin ihnen gefolgt, aber auf dem Gehsteig endeten die Spuren.«

Lorlens Herz setzte einen Schlag aus, dann begann es zu rasen. Ein perfekter Kreis auf dem Boden und ein Sprung aus dem zweiten Obergeschoss? Um zu schweben, musste ein Magier eine Energiescheibe zu seinen Füßen schaffen. In weicher Erde oder Sand konnte das Ergebnis durchaus ein kreisförmiger Abdruck sein.

»Vielleicht war dieser Abdruck schon vor der Tat da gewesen«, sagte Lorlen.

Barran zuckte die Achseln. »Oder er hat eine Art Leiter mit einem runden Sockel benutzt. Der ganze Fall ist seltsam. Die Frau hatte allerdings keine Schnittwunden an den Schultern, daher glaube ich nicht, dass sie ein Opfer des Serienmörders war, nach dem wir suchen. Nein, dieser Täter hat schon seit einer ganzen Weile nicht mehr zugeschlagen, es sei denn, wir hätten bisher nichts davon erfahren…«

Ein Gongschlag unterbrach ihr Gespräch, und Velia erschien in der Tür. »Das Essen ist fertig«, erklärte sie. Lorlen und Barran erhoben sich, um ins Esszimmer hinüberzugehen. Velia sah ihren Sohn durchdringend an. »Und es wird an meinem Tisch nicht über Morde oder Selbstmorde geredet! Das würde dem Administrator nur das Essen verleiden.«

Dannyl beobachtete aus den Kutschenfenstern, wie die prächtigen gelben Gebäude Capias an ihm vorbeizogen. Die Sonne stand tief am Himmel, und die ganze Stadt schien in ihrem warmen Licht zu leuchten. Die Straßen waren voller Kutschen und Menschen.

An jedem Tag und an den meisten Abenden der letzten drei Wochen war er damit beschäftigt gewesen, sich mit einflussreichen Leuten zu treffen oder Errend bei Botschaftsangelegenheiten zur Hand zu gehen. Er hatte inzwischen die meisten der Dems und Bels kennen gelernt, die bei Hof ein und aus gingen. Außerdem hatte er die persönliche Geschichte eines jeden Gildemagiers in Erfahrung gebracht, der in Elyne lebte. Er hatte die Namen elynischer Kinder mit magischem Potenzial aufgelistet, Anfragen von Höflingen an die Gilde beantwortet oder weitergeleitet, Verhandlungen über den Ankauf von elynischen Weinen geführt und einen Diener geheilt, der sich in der Küche des Gildehauses verbrannt hatte.

Es beunruhigte ihn, dass er so viel Zeit verloren hatte, ohne sich um Lorlens Nachforschungen kümmern zu können, daher beschloss er, dass er, sobald er das nächste Mal einige Stunden frei hatte, der Großen Bibliothek einen Besuch abstatten würde. Tayend hatte ihm auf seine Nachfrage mitgeteilt, dass er die Bibliothek auch abends aufsuchen dürfe, und als Dannyl festgestellt hatte, dass er an diesem Abend frei war, hatte er ein frühes Essen und eine Kutsche bestellt.

Anders als in Imardin waren die Straßen von Capia das reinste Labyrinth. Die Kutsche fuhr im Zickzack hin und her und musste gelegentlich einen Umweg um einen steilen Hügel herum nehmen. Elegante Villen wichen großen Häusern, die durch Reihen kleiner, adretter Gebäude abgelöst wurden. Hinter einer Anhöhe gelangte die Kutsche in ein schäbigeres Stadtviertel. Holz und andere, primitivere Materialien ersetzten den gelben Stein, und die Männer und Frauen, die durch die Straßen schlenderten, waren einfacher gekleidet. Obwohl er nichts so Abstoßendes sah wie die Dinge, die ihm bei seiner Suche nach Sonea in den Hüttenvierteln von Imardin begegnet waren, war Dannyl dennoch ein wenig enttäuscht. Die Hauptstadt von Elyne zeigte sich nach außen hin in solcher Pracht, dass die Existenz ärmerer Viertel eine gewisse Desillusion bedeutete.

Schließlich ließen sie die Häuser hinter sich zurück, und die Kutsche fuhr durch wellige Hügel. Tenn-Felder wiegten sich in der sanften Brise. In Reih und Glied gepflanzte Vare-Reben hingen voller Früchte, die nur darauf warteten, geerntet und dann zur Herstellung von Wein gelagert zu werden. Hier und da kamen Gärten mit schwerbeladenen Pachi- und Piorre-Bäumen in Sicht, deren Früchte zum Teil von Vindo geerntet wurden, die eigens zu diesem Zweck jedes Jahr nach Elyne kamen.

Als die letzten Sonnenstrahlen sich langsam orange färbten und die Kutsche sich immer weiter von der Stadt entfernte, wuchs in Dannyl eine gewisse Unruhe. Hatte der Fahrer seine Anweisungen falsch verstanden? Er wollte gerade an das Dach der Kutsche klopfen, als der Wagen um den Fuß eines Hügels herumfuhr.

Das dunkle Band der Straße führte in einer Kurve auf eine hohe Felswand zu. Im Licht der untergehenden Sonne leuchtete der gelbe Stein, als brenne in seinem Inneren ein Feuer. Dunkle Schatten von Fenstern, Simsen und Bogen gliederten die Fassade, die er aus Bildern bereits kannte.

»Die Große Bibliothek«, murmelte Dannyl voller Staunen.

In den Felsen war ein riesiger Eingang gehauen worden, in dem sich ein Tor aus massivem Holz befand. Als die Kutsche näher heranfuhr, erkannte Dannyl, dass ein kleines dunkles Viereck an der Unterkante in Wirklichkeit eine mannshohe Tür in dem riesigen Tor war. Daneben stand jemand und wartete.

Dannyl lächelte, als er die bunte Kleidung des Mannes sah. Während die Kutsche den Abstand zur Bibliothek langsam verringerte, klopfte er ungeduldig mit den Fingern an den Fensterrahmen. Als der Wagen sein Ziel endlich erreicht hatte, kam Tayend herbeigeeilt, um ihm den Kutschenschlag zu öffnen.