»Willkommen in der Großen Bibliothek, Botschafter Dannyl«, erklärte er mit einer eleganten Verbeugung.
Dannyl blickte sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Ich erinnere mich, dass ich als Novize in Büchern Bilder der Bibliothek gesehen habe. Aber die Wirklichkeit übertrifft diese Bilder bei weitem. Wie alt ist das Gebäude?«
»Älter als die Gilde«, erwiderte Tayend ein wenig selbstgefällig. »Etwa acht oder neun Jahrhunderte nach unserer Schätzung. Einige Teile sind noch älter, und das Beste steht Euch noch bevor - also folgt mir, Mylord.«
Sie traten durch die kleine Tür, die Tayend hinter ihnen verriegelte, dann kamen sie in einen langen Korridor mit gewölbter Decke. Hier herrschte vollkommene Dunkelheit, aber bevor Dannyl eine Lichtkugel schaffen konnte, führte Tayend ihn zu einer steilen, von Fackeln beschienenen Treppe.
Oben angekommen, fand Dannyl sich in einem langgestreckten, schmalen Raum wieder. An der einen Seite befanden sich die Fenster, die er von der Kutsche aus gesehen hatte. Sie waren riesig und durch eiserne Gitter weiter unterteilt, so dass die darin eingesetzten Scheiben nicht übermäßig groß zu sein brauchten. Auf der den Fenstern gegenüberliegenden Wand zeichnete die Sonne das Muster der eisernen Fensterkreuze. Überall standen Sessel in Dreier- oder Vierergruppen beieinander, und neben dem nächststehenden wartete ein älterer Mann.
»Guten Abend, Botschafter Dannyl.« Der Mann verneigte sich mit der vorsichtigen Steifheit sehr alter Menschen. »Ich bin Irand, der Bibliothekar.«
Irand hatte eine tiefe, überraschend kräftige Stimme, die gut zu der unmenschlichen Größe der Bibliothek passte. Auf seinem Schädel sprossen kurze, dünne weiße Haare, und er trug ein schlichtes Hemd und Hosen, die aus einem staubgrauen Stoff geschneidert waren.
»Guten Abend, Bibliothekar Irand«, erwiderte Dannyl.
Ein Lächeln legte sich über die Züge des Bibliothekars. »Administrator Lorlen hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Ihr hier eine Aufgabe für ihn zu erledigen hättet. Er sagte, Ihr würdet all die Quellen sehen wollen, die der Hohe Lord während seiner Nachforschungen studiert hat.«
»Wisst Ihr denn, welche Quellen das waren?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, aber Tayend kann sich an einige davon erinnern. Er war Akkarins Assistent und hat sich bereitgefunden, Euch bei Eurer Suche zur Seite zu stehen.« Der alte Mann nickte dem Gelehrten zu. »Ihr werdet seine Kenntnisse alter Sprachen gewiss recht nützlich finden. Außerdem wird er für Euch etwas zu essen und zu trinken kommen lassen, falls Ihr dies wünschen solltet.« Tayend nickte eifrig, und der alte Mann lächelte.
»Vielen Dank«, erwiderte Dannyl.
»Nun denn, ich will Euch nicht aufhalten.« Irands Augen leuchteten kurz auf. »Die Bibliothek erwartet Euch.«
»Hier entlang, Mylord«, sagte Tayend und ging zurück zur Treppe.
Dannyl folgte dem Gelehrten abermals durch den dunklen Flur. Auf einem Regal an der Seite standen einige Lampen, und Tayend machte Anstalten, nach einer zu greifen.
»Macht Euch keine Mühe«, sagte Dannyl. Er konzentrierte sich kurz, dann erschien über seinem Kopf eine Lichtkugel, die ihre Schatten in den Korridor warf. Tayend zuckte merklich zusammen.
»Diese Dinge hinterlassen immer Flecken vor meinen Augen.« Er reckte sich und hob eine Lampe von dem Regal. »Möglich, dass ich Euch irgendwann werde allein lassen müssen, daher nehme ich doch besser eine mit.«
Während sie ihren Weg durch den Flur fortsetzten, begann Tayend zu erzählen. »Diese Bibliothek ist schon immer ein Hort des Wissens gewesen. In einem unserer Räume haben wir halb verfallene Papiere, die achthundert Jahre alt sind und Hinweise darauf geben, dass sich hier schon zu jener Zeit eine Art Bibliothek befunden haben muss. Ursprünglich wurden nur einige wenige Räume zu diesem Zweck benutzt. In den übrigen Bereichen des Hauses waren früher einmal einige tausend Menschen untergebracht. Wir haben inzwischen fast jeden Raum mit Büchern und Schriftrollen, Schrifttafeln und Gemälden gefüllt - und wir haben zusätzliche Räume in den Felsen gehauen.«
Dannyl hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit sich vor ihm zurückzuziehen schien, wie eine Art Nebel, der sich vor Magie fürchtete. Dann standen sie plötzlich vor einer Mauer, und Tayend bog in den Gang zu seiner Rechten ein.
»Welche Sprachen beherrscht Ihr denn, wenn ich fragen darf?«, sagte Dannyl.
»Sämtliche alten Dialekte von Elyne und Kyralia«, antwortete Tayend. »Unsere alten Sprachen sind einander sehr ähnlich, aber je weiter man zurückgeht, umso deutlicher treten die Unterschiede zutage. Außerdem spreche ich das moderne Vindo - das habe ich von einigen Dienern zu Hause gelernt - und ein wenig Lans. Mit Hilfe meiner Bücher kann ich überdies das alte Vindo und die tenturischen Glyphen übersetzen.«
Dannyl sah seinen Begleiter beeindruckt an. »Das sind aber viele Sprachen.«
Der Gelehrte zuckte die Achseln. »Sobald man einige Sprachen kennt, fallen einem die übrigen förmlich zu. Eines Tages werde ich mich daranmachen, modernes Lonmar zu lernen und einige der alten lonmarischen Sprachen. Bisher fehlte mir einfach nur der Grund dazu. Danach werde ich mir die sachakanischen Sprachen vornehmen. Ihre alten Dialekte sind den unseren ebenfalls recht ähnlich.«
Nach mehreren Biegungen und einigen Treppen blieb Tayend schließlich vor einer Tür stehen. Mit ungewöhnlich ernster Miene bedeutete er Dannyl vorauszugehen. Dannyl folgte dieser Aufforderung, dann sog er überrascht den Atem ein.
Ungezählte Reihen von Regalen zogen sich durch den Raum, geteilt durch einen breiten Gang direkt vor ihm. Obwohl die Decke niedrig war, war die gegenüberliegende Mauer so weit entfernt, dass er sie nicht einmal sehen konnte. Jeweils in einer Entfernung von etwa hundert Schritten standen gewaltige Steinsäulen, die den Fußboden mit der Decke verbanden. Das einzige Licht kam von Lampen, die auf schweren Eisensockeln ruhten.
Der riesige Raum verströmte ein Gefühl unvorstellbaren Alters. Verglichen mit den wuchtigen steinernen Säulen und der Decke wirkten die Bücher seltsam zerbrechlich. Ein Gefühl der Melancholie bemächtigte sich Dannyls. Er hätte ein Jahr an diesem Ort verweilen können, ohne dort einen stärkeren Eindruck zu hinterlassen als ein Mottenflügel, der über die kalten Steinmauern strich.
»Verglichen mit diesem Raum ist die übrige Bibliothek relativ neu«, sagte Tayend mit gedämpfter Stimme. »Dies ist der älteste Raum. Vielleicht mehrere tausend Jahre alt.«
»Wer hat ihn geschaffen?«, flüsterte Dannyl.
»Das weiß niemand.«
Ohne den Blick von den endlosen Bücherregalen abzuwenden, schritt Dannyl langsam den Gang hinunter.
»Wie soll ich hier finden, was ich brauche?«, fragte er mit einem Anflug von Verzweiflung.
»Oh, das ist kein Problem.« Tayends Stimme klang plötzlich kräftiger und schien die lastende Stille des Raumes geradezu zu durchschneiden. »Ich habe alles für Euch bereitgestellt, im selben Studierzimmer, das Akkarin damals benutzt hat. Folgt mir.«
Kurze Zeit später fand sich Dannyl in einem kleinen Raum wieder, in dessen Mitte ein steinerner Tisch mit mehreren Bücherstapeln darauf stand.
»Da wären wir«, sagte Tayend. »Und das sind die Bücher, die Akkarin gelesen hat.«
Manche der Bände waren winzige, nur handtellergroße Bücher, dann wieder gab es Exemplare, die man kaum von einem Ort zum anderen hätte tragen können. Dannyl begutachtete sie und las die Titel.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte er laut.
Tayend zog einen staubigen Band aus einem der Stapel. »Das war das erste Buch, das Akkarin gelesen hat.«
Dannyl sah Tayend beeindruckt an. Die Augen des jungen Mannes leuchteten vor Begeisterung.
»Ihr könnt Euch so gut daran erinnern?«
Der Gelehrte grinste. »Man braucht ein gutes Gedächtnis, um eine Bibliothek benutzen zu können. Wie sonst sollte man ein Buch wiederfinden, nachdem man es gelesen hat?«