Als die anderen Jungen und Mädchen nach vorn eilten, spürte Sonea den leichten Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um und blickte zu Rothen auf.
»Keine Angst. Es wird im Nu vorbei sein«, beruhigte er sie.
Sie antwortete ihm mit einem Grinsen. »Ich habe keine Angst, Rothen.«
»Ha!« Er gab ihr einen sanften Stoß. »Dann geh. Lass sie nicht warten.«
Vor den Türen hatte sich eine kleine Gruppe Menschen versammelt. Lord Osens Lippen wurden zu einer schmalen Linie. »Bildet eine Reihe, bitte.«
Während die neuen Schüler gehorchten, sah Lord Osen zu Sonea hinüber. Ein schnelles Lächeln umspielte seine Lippen, und Sonea nickte ihm zu. Dann stellte sie sich hinter den letzten Jungen in die Reihe. Gleich darauf erregte ein Zischen zu ihrer Linken ihre Aufmerksamkeit.
»Wenigstens kennt sie ihren Platz«, murmelte jemand. Sonea drehte leicht den Kopf und sah zwei Kyralierinnen in ihrer Nähe stehen.
»Das ist das Mädchen aus den Hüttenvierteln, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte die erste Frau. »Ich habe Bina gesagt, sie soll sich von ihr fern halten. Ich möchte nicht, dass meine süße kleine Tochter sich irgendwelche abscheulichen Unarten angewöhnt - oder Krankheiten zuzieht.«
Die Antwort der zweiten Frau konnte Sonea nicht mehr hören, da sie inzwischen weitergegangen war. Sie presste sich eine Hand auf die Brust, überrascht darüber, dass ihr Herz so heftig hämmerte. Gewöhn dich daran, sagte sie sich, solche Dinge wirst du noch häufiger zu hören bekommen. Sie widerstand dem Drang, sich nach Rothen umzudrehen, drückte die Schultern durch und folgte den anderen Jungen und Mädchen durch den langen Gang in die Mitte der Halle.
Als sie die großen Türen durchschritten hatten, umfingen sie die hohen Wände der Gildehalle. Die Plätze zu beiden Seiten des Raumes waren nicht einmal zur Hälfte besetzt, obwohl fast alle Magier, die in der Gilde und in der Stadt lebten, zugegen waren. Als Sonea sich nach links wandte, begegnete sie dem kalten Blick eines älteren Magiers. Sein gefurchtes Gesicht verriet Missbilligung, und seine Augen schienen sich in ihre brennen zu wollen.
Soneas Gesicht wurde heiß, und sie blickte wieder zu Boden. Verärgert stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten. Wollte sie sich durch die Missbilligung eines alten Mannes so sehr aus der Ruhe bringen lassen? Sie bemühte sich nach Kräften, eine ruhige, selbstbeherrschte Miene aufzusetzen, und ließ den Blick langsam über die Reihen der Gesichter wandern…
…und wäre um ein Haar gestolpert, da ihre Knie plötzlich alle Kraft verloren hatten. Es schien, als sehe jeder Magier in der Halle sie an. Sie schluckte, dann richtete sie den Blick auf den Rücken des vor ihr stehenden Jungen.
Als die neuen Schüler das Ende des Ganges erreichten, schickte Osen den ersten auf die linke Seite, dann den zweiten auf die rechte und fuhr in diesem Muster fort, bis sie eine Reihe quer durch die Halle bildeten. Sonea fand sich in der Mitte der Reihe wieder, direkt gegenüber von Lord Osen. Er beobachtete schweigend das Treiben hinter ihr. Sie konnte ein Schlurfen hören und das Klirren von Schmuck und vermutete, dass die Eltern jetzt in die Stuhlreihen hinter ihnen traten. Als wieder Ruhe eingekehrt war, drehte sich Osen um und verbeugte sich vor den Höheren Magiern, die in den übereinander angeordneten Stuhlreihen an der Stirnseite der Gildehalle saßen.
»Die neuen Schüler des Sommersemesters der Universität.«
»Ich finde es in diesem Jahr viel interessanter, weil jemand dabei ist, den ich kenne«, bemerkte Dannyl, als Rothen seinen Platz einnahm.
Rothen musterte seinen Gefährten. »Aber im vergangenen Jahr war doch dein Neffe unter den Novizen.«
Dannyl zuckte die Achseln. »Ich kenne den Jungen kaum. Aber Sonea kenne ich.«
Erfreut wandte sich Rothen wieder der Zeremonie zu. Obwohl Dannyl sehr charmant sein konnte, wenn er wollte, war er kein Mensch, der schnell Freundschaften schloss. Daran war größtenteils ein Zwischenfall schuld, der sich ereignet hatte, als Dannyl selbst noch Novize gewesen war. Man hatte ihm damals »unziemliches« Interesse an einem älteren Jungen vorgeworfen, und er hatte die Verleumdungen der Novizen und Magier gleichermaßen ertragen müssen. Man hatte ihn gemieden und verhöhnt, und das war Rothens Meinung nach der Grund, warum Dannyl bis heute kaum einem Menschen traute, geschweige denn sich mit ihnen befreundete.
Rothen war schon seit Jahren Dannyls einziger enger Freund. Als Lehrer hatte Rothen ihn für einen der vielversprechenderen Novizen in seinen Klassen gehalten. Als er hatte mit ansehen müssen, wie das böse Gerücht und der Skandal Dannyls Studium sehr in Mitleidenschaft zogen, hatte er beschlossen, sich des Jungen als Mentor anzunehmen. Mit ein wenig Ermutigung und viel Geduld war es ihm gelungen, die Aufmerksamkeit von Dannyls schnellem Verstand von Tratsch und gehässigen Streichen wieder auf Magie und Gelehrsamkeit zu lenken.
Einige Magier hatten bezweifelt, dass es Rothen gelingen würde, Dannyl wieder »auf den richtigen Weg« zu bringen. Rothen lächelte. Nicht nur das war ihm gelungen, sondern Dannyl war soeben auch zum zweiten Botschafter der Gilde in Elyne ernannt worden. Jetzt blickte Rothen wieder zu Sonea hinunter und fragte sich, ob auch sie ihm eines Tages Grund geben würde, so selbstzufrieden zu sein.
Dannyl beugte sich vor. »Verglichen mit Sonea sind die anderen die reinsten Kinder, nicht wahr?«
Rothen betrachtete die übrigen Jungen und Mädchen und zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau, wie alt sie sind, aber der Altersdurchschnitt für neue Schüler liegt bei fünfzehn Jahren. Sonea ist fast siebzehn. Zwei Jahre dürften keinen großen Unterschied machen.«
»Da bin ich anderer Meinung«, murmelte Dannyl, »aber ich hoffe, dass der Altersunterschied ihr zum Vorteil gereichen wird.«
Unter ihnen ging Lord Osen nun langsam an der Reihe der neuen Schüler vorbei und verkündete Namen und Titel eines jeden von ihnen.
»Ahrind aus der Familie Genard.« Osen machte zwei weitere Schritte. »Kano aus der Familie Temo, Schiffsbauerngilde.« Noch ein Schritt. »Sonea.«
Osen hielt kurz inne, dann ging er weiter. Als er den nächsten Namen ausrief, stieg in Rothen Mitgefühl für Sonea auf. Der Mangel an einem großartigen Titel oder dem Namen eines Hauses hatte sie öffentlich zur Außenseiterin gemacht. Das ließ sich jedoch nicht ändern.
»Regin aus der Familie Winar, Haus Paren«, beendete Osen seine Erklärungen, als er den letzten Jungen erreichte.
»Das ist Garrels Neffe, nicht wahr?«, fragte Dannyl.
»Ja.«
»Wie ich hörte, wollten seine Eltern ihn im letzten Wintersemester erst drei Monate nach Unterrichtsbeginn anmelden.«
»Das ist seltsam. Warum nicht rechtzeitig?«
»Keine Ahnung.« Dannyl hob die Schultern. »Den Teil der Geschichte habe ich nicht mitbekommen.«
»Hast du wieder spioniert?«
»Ich spioniere nicht, Rothen. Ich höre zu.«
Rothen schüttelte den Kopf. Er mochte Dannyl den Novizen vielleicht an rachsüchtigen Streichen gehindert haben, aber zumindest bisher war es ihm nicht gelungen, Dannyl dem Magier sein Interesse an Klatsch und Tratsch auszutreiben. »Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn du fortgehst. Wer wird mich dann über all die kleinen Intrigen der Gilde auf dem Laufenden halten?«
»Du wirst einfach besser aufpassen müssen«, entgegnete Dannyl.
»Ich habe mich schon gefragt, ob die Höheren Magier dich vielleicht deshalb wegschicken, um dich daran zu hindern, so viel zu ›hören‹.«
Dannyl lächelte. »Ah, ganz im Gegenteil. Ihrer Meinung nach kann man am besten herausfinden, was in Kyralia vorgeht, indem man einige Tage damit verbringt, sich den Klatsch und Tratsch in Elyne anzuhören.«
Laute Schritte lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Halle. Der Rektor der Universität, Jerrik, hatte sich von seinem Platz unter den Höheren Magiern erhoben und ging die Treppe hinunter. In der Mitte des Raums blieb er stehen und ließ den Blick über die Reihe der neuen Schüler wandern, wobei sein Gesicht den gewohnt säuerlichen, missbilligenden Ausdruck zeigte.