"Mein Vater macht sich auch keine Sorgen. Er will mich nur lesen hören, weil er weiß, daß ich es bestimmt gut kann. Ich schätze, daß dein Vater dich lieber nicht vorlesen läßt, weil er weiß, daß du alles falsch liest."
"Ich lese nichts falsch. Lesen ist gar nichts. Auf Novia werde ich Leute anstellen, die mir vorlesen."
"Weil du nicht selbst lesen kannst. Du bist viel zu dumm dazu!"
"Wie kommt es dann, daß ich nach Novia auswandern werde?"
George war so wütend, daß er zum erstenmal widersprach. "Wer sagt denn, daß sie dich dort nehmen? Ich wette, daß du auf der Erde bleibst."
Stubby Trevelyan wurde rot. "Aber jedenfalls nicht als Installateur wie dein Alter."
"Nimm das sofort zurück, du Trottel!"
"Nimm du das zurück!"
Sie standen sich mit geballten Fäusten gegenüber. Aber noch bevor die Rauferei beginnen konnte, erklang eine Frauenstimme aus den Lautsprechern. George ließ die Hände sinken und vergaß Trevelyan.
"Kinder", sagte die Stimme, "wir werden jetzt eure Namen aufrufen. Jedes Kind, das seinen Namen hört, geht zu einem der Männer hinüber, die an den Seitenwänden stehen. Seht ihr sie? Sie tragen rote Uniformen. Mädchen gehen nach links, Jungens nach rechts. Seht euch um und merkt euch den Mann, der euch am nächsten steht..."
George fand sofort einen und wartete darauf, daß sein Name aufgerufen wurde. Er wußte noch nicht, wie weit unten sein Name im Alphabet stand, deshalb warf er einen besorgten Blick zu dem Lautsprecher hinauf, der immer wieder andere verkündete.
Als der Name "George Platen" endlich aufgerufen wurde, stieß er einen erleichterten Seufzer aus und freute sich gleichzeitig, daß Stubby Trevelyan noch immer an seinem Platz stand.
"He, Stubby, vielleicht wollen sie dich gar nicht", rief er ihm zu, während er selbst auf den Mann in der roten Uniform zuging.
Seine Fröhlichkeit machte jedoch bald einer gewissen Niedergeschlagenheit Platz, als er nach der gründlichen ärztlichen Untersuchung allein in einem Wartezimmer saß. Er betrachtete die Karteikarte, die er in dem nächsten Raum abgeben sollte. Kleine schwarze Kringel in verschiedenen Formen. Er wußte, daß das Buchstaben waren, aber wie wurden daraus Wörter? Er schüttelte verwirrt den Kopf.
Endlich erklang sein Name aus dem Deckenlautsprecher. George betrat den großen Raum, der voller eigenartiger Maschinen stand. In der Mitte des Raumes saß ein Mann hinter einem Schreibtisch und sortierte Papiere.
Er fragte: "George Platen?"
"Jawohl, Sir", sagte George mit zitternder Stimme.
"Ich bin Doktor Lloyed, George", sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. "Wie geht es dir?"
Der Arzt sah nicht auf, während er mit George sprach.
"Danke, gut."
"Hast du Angst, George?"
"N-nein, Sir", antwortete George nicht sehr überzeugend.
"Das ist gut", meinte der Arzt, "weil du wirklich keine zu haben brauchst. Schön, George, hier auf deiner Karte steht, daß dein Vater mit Vornamen Peter heißt und ein Registrierter Installateur ist. Deine Mutter heißt Amy und ist eine Registrierte Heimtechnikerin. Stimmt das?"
"J-ja, Sir."
"Du bist am dreizehnten Februar acht geworden und hast vor etwa einem Jahr die Masern gehabt. Richtig?"
"Richtig, Sir."
"Weißt du, woher ich das alles weiß?"
"Es steht auf der Karte, glaube ich, Sir."
"Genau." Der Arzt sah zum erstenmal auf und lächelte George an. Er war viel jünger, als George vermutet hatte. George fühlte, daß seine Nervosität allmählich schwand.
Der Arzt gab ihm die Karte in die Hand. "Weißt du, was das alles heißt, George?"
George warf einen kurzen Blick darauf und überzeugte sich, daß er die Zeichen nicht besser verstand als zuvor im Wartezimmer. Er gab die Karte zurück und antwortete wahrheitsgemäß: "Nein, Sir."
"Und weshalb nicht?"
George zweifelte einen Augenblick lang an der geistigen Verfassung des Arztes. Kannte er den Grund dafür wirklich nicht?
"Ich kann nicht lesen, Sir", antwortete er dann.
"Möchtest du es lernen?"
"Jawohl, Sir."
"Warum, George?"
George starrte ihn sprachlos an. Diese Frage war bisher noch nie aufgetaucht. Er wußte keine Antwort darauf. "Ich weiß nicht, Sir", sagte er schließlich nach einer längeren Pause.
"Gedruckte Informationen werden dich dein ganzes Leben lang anleiten. Selbst nach dem Erziehungstag gibt es noch eine Menge zu lernen. Karten wie diese hier, Bücher und Lesebänder enthalten Informationen. Erst dadurch wird das Leben wirklich so interessant, wie du es dir jetzt vielleicht vorstellst. Hast du das verstanden?"
"Ja, Sir."
"Hast du Angst, George?"
"Nein, Sir."
"Ausgezeichnet. Hör gut zu. Ich lege dir jetzt diese Drähte an den Kopf. Sie bleiben von selbst dort, tun aber nicht weh. Dann stelle ich eine Maschine an, die ein bißchen summt. Vielleicht spürst du dann ein leichtes Kitzeln, aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn es weh tun sollte, brauchst du es mir nur zu sagen. Ich schalte die Maschine dann sofort wieder ab. Hast du das verstanden?"
George nickte und schluckte trocken.
"Können wir anfangen?"
George nickte nochmals. Er schloß die Augen, während der Arzt die Drähte anlegte.
Erst einige Minuten später öffnete er sie wieder. Der Arzt stand mit dem Rücken zu ihm. Aus einer der Maschinen kam ein schmaler Papierstreifen heraus, auf dem eine dunkelrote Wellenlinie erkennbar war. Der Arzt riß kleine Stücke davon ab und steckte sie in den Schlitz einer anderen Maschine. Jedesmal fiel ein Stück bedruckte Folie aus der anderen Maschine, das der Arzt genau betrachtete. Schließlich wandte er sich wieder zu George um und runzelte dabei die Stirn.
Das Summen der Maschine hörte auf.
"Ist es jetzt vorbei?" erkundigte George sich atemlos.
"Ja", antwortete der Arzt.
"Kann ich jetzt lesen?" fragte George. Er spürte keine Veränderung in sich.
Dr. Lloyed lächelte und hielt ihm die Karte entgegen. "Hier ist deine Karteikarte, George. Was steht darauf?"
George sah sie an und stieß einen erstickten Laut aus. Die Kringel waren nicht nur schwarze Zeichen. Sie bildeten Wörter. Sie waren so klar, als läse sie jemand leise vor.
"Was steht darauf, George?"
"Dort steht... dort steht... Platen, George. Geboren am dreizehnten Februar 6492. Eltern: Peter und Amy Platen, wohnhaft in..." Er las nicht weiter.
"Du kannst lesen, George", sagte der Arzt. "Jetzt ist alles vorbei."
"Für immer? Kann ich jetzt immer lesen?"
"Selbstverständlich." Der Arzt schüttelte ihm die Hand. "Du kannst jetzt nach Hause gehen."
George brauchte fast eine Woche, bis er diese herrliche neue Begabung voll erfaßte. Aber er las seinem Vater, Platen senior, so schwere Sätze vor, daß seine Eltern vor Begeisterung weinten und sämtliche Verwandten anriefen, um ihnen dieses freudige Ereignis mitzuteilen.
Mit achtzehn war George nur mittelgroß, aber hager genug, um größer zu wirken. Trevelyan, der kaum zwei Zentimeter kleiner war, hatte einen ungewöhnlich gedrungenen Körperbau, der den Spitznamen "Stubby" noch gerechtfertigter als zuvor erscheinen ließ. Aber in den letzten Jahren war er selbstbewußter geworden und bestand nun darauf, daß jedermann ihn einfach mit seinem Familiennamen anzureden hatte, weil ihm sein wirklicher Vorname ebenfalls mißfiel. Als weiteren Beweis seiner jungen Männlichkeit hatte er sich außerdem einen Schnurrbart stehenlassen, der vorläufig noch kümmerlich genug war.
Jetzt schwitzte er vor Aufregung, und George, der die Entwicklung der Ereignisse mit Gelassenheit betrachtete, machte sich innerlich über ihn lustig.
Sie standen in der gleichen Halle wie vor zehn Jahren, die sie in der Zwischenzeit nicht wieder betreten hatten.
Diesmal war die Halle nicht so gedrängt voll, denn heute waren nur junge Männer anwesend. Die achtzehnjährigen Mädchen versammelten sich an einem anderen Tag.