Ich verstand allerdings noch immer nicht, was es mit dem Blick durch das Fenster der Kapelle auf Fortyfoot House auf sich hatte. Allerdings begann ich zu vermuten, dass es sich um irgendeine Art von Illusion handelte, verursacht durch Übermüdung und Stress. Liz hatte den Garten betreten, und ich hatte aus irgendeinem Grund angenommen, es handele sich um den Mann auf dem Foto. Mein Verstand hatte mir einen Streich gespielt.
Ich ging ins Café, um zu bezahlen. Die alte Frau saß an einem der Tische und sortierte 5-und 10-Pence-Münzen. Ich stand da und wartete ab, bis sie fertig war. An der Wand hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift >Fish 'n' Chips<.
»Haben Sie wirklich Lichter gesehen?«, fragte ich schließlich.
Sie blickte zu mir auf. Ein gekrümmtes Abbild der Küste spiegelte sich in ihrem linken Brillenglas. »Ja, das habe ich«, antwortete sie. »Lichter. Und Geräusche habe ich gehört.
Ich möchte nachts nicht mal in die Nähe dieses Hauses kommen.«
»Naja, Mrs. ...?«, begann ich.
»Kemble«, sagte sie. »Aber Sie können mich Doris nennen, wenn Sie wollen. Das macht jeder. Eigentlich heiße ich Dorothy, aber alle nennen mich Doris.«
»Okay, Doris. Ich heiße David.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, erwiderte sie, während sie die Münzen zu Ein-Pfund-Stapeln auftürmte.
»Erzählen Sie mir etwas über Fortyfoot House«, bat ich sie.
Sie schürzte die Lippen. »Wenn Sie dort wohnen, ist es besser, dass Sie nichts wissen.«
»Es ist doch nicht gefährlich, oder?«
»Kommt drauf an, was Sie als >gefährlich< bezeichnen.«
»Doris ... ich habe Geräusche auf dem Speicher gehört. Ich habe irgendein Ding gesehen. Ich glaube, es war eine Ratte. Ich hoffe, es war eine Ratte. Aber da ist noch etwas.«
Sie entnahm meinem Tonfall, dass ich es völlig ernst meinte, und sah mich an.
»Heute Morgen habe ich im Garten einen Mann gesehen.«
»Oh, ja? Was für einen Mann? Nicht zufällig Mr. Brough? Er kommt manchmal vorbei, um das Unkraut aus dem Fischteich zu entfernen.«
»Wie sieht er aus?«
»Oh ... er ist so um die fünfundsechzig oder siebzig. Normalerweise trägt er einen weiten Strohhut und Khakishorts.«
»Nein, er war es nicht. Der Mann war viel jünger, er war in Schwarz gekleidet. Und er trug einen hohen schwarzen Hut. Das Merkwürdige daran ist, dass es im Fortyfoot House ein altes Foto gibt, auf dem ein Mann zu sehen ist, der fast genauso aussieht wie der Mann von heute Morgen.«
»Der junge Mr. Billings«, sagte die Frau bestimmt.
»Sie kennen ihn?«, fragte ich überrascht.
»Ja und nein. Ich weiß von ihm. Aber ich kenne ihn nicht in der Weise, dass ich mich mit ihm unterhalten könnte. Das kann man auch nur schlecht, wenn jemand schon tot war,
bevor man selbst auf die Welt kommt. Aber das war auf jeden Fall der junge Mr. Billings.«
In diesem Moment betrat Liz das Café. Mit dem Licht im Rücken sah sie noch zierlicher und strahlender aus als zuvor.
»Danny sagt, er würde gerne was trinken.«
»Wir gehen jetzt gleich zurück zum Haus. Da kann er ein Glas Orangensaft bekommen.«
»Du guckst, als hättest du was verloren«, sagte Liz.
»Vermutlich meinen Verstand. Doris glaubt, dass der Mann, den ich heute Morgen im Garten gesehen habe, jemand mit Namen Billings war, der starb, bevor sie geboren wurde.«
»Was?«, sagte Liz spöttisch, dann an Doris gewandt: »Ich dachte, Sie glauben nicht an Geister.«
»Es war nicht Mr. Brough«, gab Doris zurück.
»Mr. Brough ist der Mann, der den Teich sauber macht«, erläuterte ich.
»Es war der junge Mr. Billings«, wiederholte Doris. Sie stand auf, nahm ein Tablett mit Salz-und Pfefferstreuern und verteilte sie mit viel Lärm auf den Tischen. »Es gab einen alten Mr. Billings und einen jungen Mr. Billings. Der, den Sie gesehen haben, war der junge Mr. Billings.«
»Aber wer sind die beiden?«, wollte ich wissen. »Oder besser gesagt: Wer waren die beiden?«
Doris stellte die letzten Streuer ab und begann, mit einem Plastikkorb voller Besteck noch mehr Lärm zu verursachen. »Der alte Mr. Billings gründete Fortyfoot House, und als er jung starb, übernahm es der junge Mr. Billings. Das hat mir meine Mutter immer erzählt. Meine Mutter hat im Haus sauber gemacht. Das war natürlich lange nachdem auch der junge Mr. Billings gestorben war. Aber zu der Zeit gab es noch viele Leute, die wussten, was sich zugetragen hatte. Vor nicht allzu langer Zeit stand in der Zeitung ein Artikel über Fortyfoot House. Der alte Mr. Billings und der junge Mr. Billings. Es war aber der junge Mr. Billings, der den ganzen Arger ausgelöst hatte.«
»Welchen Ärger?«, fragte ich.
Danny kam herein und sagte: »Daddy ... ich möchte zum Strand runtergehen.«
»Iss erst dein Eis auf. Und zieh dir die Strümpfe aus. Ich weiß gar nicht, warum du überhaupt Strümpfe trägst.«
»Mom sagt, dass ich sie tragen soll, damit meine Füße nicht riechen. Wenn ich nur Sandalen trage, riechen meine Füße.«
»Also gut.« Ich seufzte. »Aber zieh sie aus, bevor du zum Strand runtergehst, klar?«
Doris stand bei uns. Während sie sprach, fingerte sie an ihrem Ehering. Fast so, als sei er ein Rosenkranz und als sage sie ihre Gebete auf. Der Wind wehte warm und roch nach Seetang. Die Sonne wurde in den kleinen Tümpeln reflektiert, so wie Stücke eines zerschlagenen Spiegels.
»Der alte Mr. Billings hat - glaube ich - mit Zucker ein Vermögen verdient. Er war ein Freund von Dr. Barnardo, damals, als Dr. Barnardo noch im London Hospital arbeitete. Als Dr. Barnardo seine ersten Heime für obdachlose Jungs eröffnete, hielt der alte Mr. Billings das für eine so gute Idee, dass er Fortyfoot House baute. Es war ein Waisenhaus, damit arme Kinder aus dem Londoner East End herkommen und am Meer leben konnten.«
»Jetzt, wo Sie es erwähnen, glaube ich, dass ich davon mal gehört habe«, sagte ich zu ihr. »Hieß es zu Beginn nicht Billings Home?«
Doris nickte. »Das ist richtig. Und es hatte auch einen guten Ruf. Sogar Königin Viktoria besuchte es. Aber nach zwei oder drei Jahren starb der alte Mr. Billings, oder er wurde ermordet. Das weiß niemand so genau. Es heißt, dass ihm irgendetwas ganz Entsetzliches zustieß. Der junge Mr. Billings übernahm das Waisenhaus, aber es war nicht mehr so wie zuvor. Bestimmte Leute gingen dort ein und aus. Einen Kerl gab es, der angeblich das Fortyfoot House besucht hatte, der hatte ein Gesicht, das wie mit braunem Fell überzogen war und dessen Anblick niemand aushalten konnte. Jedenfalls sagte das meine Mutter immer. Als ich noch klein war, hat sie mich mit ihren Geschichten fast zu Tode erschreckt.«
Sie machte eine kurze Pause. »Und dann - ich weiß nicht, in welchem Jahr - starben alle Waisenkinder innerhalb von zwei oder drei Wochen. Niemand fand je heraus, was mit ihnen geschehen war. Angeblich soll es eine Nacht gegeben haben, als in dem Haus alle möglichen Geräusche zu hören und seltsame Lichter zu sehen waren. Die Menschen schrien in Sprachen, die niemand verstehen konnte. Am nächsten Morgen wurde der junge Mr. Billings wahnsinnig angetroffen. Es heißt, dass er vollkommen verrückt war. Einfach völlig durchgedreht. Er erzählte, er habe eine andere Welt besucht und Dinge gesehen, die schrecklicher waren als alles, was je ein Mensch gesehen hatte. Und es wurde immer schlimmer, er wurde immer verrückter. Nach drei Jahren wurde er in Newport eingewiesen, aber er erhängte sich in seiner Zelle. Das war zwar sein Ende, aber seitdem hat sich jeder, der in Fortyfoot House gelebt hat, über die Geräusche und die Lichter beklagt. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Und ich weiß, warum die Tarrants ausgezogen sind.«
Ich warf Liz einen langen nüchternen Blick zu. Mit jedem weiteren Wort hörte sich die Geschichte immer stärker nach Seemannsgarn an. Gut für die Touristen. Geeignet für einen späten Sommerabend, wenn die Sonne lange Schatten wirft. Ich fühlte mich dagegen in meiner Ansicht bestärkt, dass -sofern überhaupt etwas mit Fortyfoot House nicht stimmte -es seine starke Ausstrahlung war, das intensive Gefühl einer Verbindung zur Vergangenheit. Es hatte nichts mit Geistern oder Lichtern zu tun. Oder mit >Dingen, die schrecklicher sind als alles, was je ein Mensch zuvor gesehen hat<.