Eigentlich war es völlig irrational von mir, dass ich nachsah, ob er noch auf dem Bild sei. Aber ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass es ihm irgendwie gelungen war, aus dem Bild zu entkommen, um sich im Fortyfoot House zu verstecken; in seinem schwarzen Anzug, mit bleichem Gesicht und zweidimensional.
Schließlich wandte ich mich von dem Foto ab, doch im gleichen Moment war ich sicher, dass sich das Bild geringfügig verändert hatte. Ich sah wieder hin. Er schien an der gleichen Stelle zu stehen wie zuvor, sein Gesichtsausdruck war unverändert. Aber hatte sein Fuß nicht gerade eben noch ein Stück näher an dem Rosenbeet gestanden?
Zu viel Piat D'Or, sagte ich mir. Zu viel Stress, zu viele Sorgen. Ich fing schon an, Gespenster zu sehen. Es war nicht möglich, dass sich etwas in einem hundert Jahre alten Bild bewegte oder veränderte. Der junge Mr. Billings konnte einfach nicht durch die Flure oder durch den Garten von Fortyfoot House spazieren.
Ich ging die Treppe nach oben, das knochenbleiche Licht in meinem Rücken. Ich erreichte den Treppenabsatz und blieb einen Moment an der Tür zum Dachboden stehen. Sie war fest verschlossen und es war weder ein Schlurfen noch ein Kratzen zu hören. Brown Johnson (oder wie die Leute in Bonchurch ihn nannten) war entweder nicht da oder er schlief. Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
Wer hat schon Angst vor einer großen braunen Ratte ?
Ich sah nach Danny, der fest schlief. Sein Haar klebte in Strähnen auf seiner Stirn. Ich gab ihm einen Kuss, woraufhin er sich umherwälzte und »Mom« sagte.
Mom, du armer kleiner Kerl. Mom ist auf und davon, zusammen mit Raymond. Mom will nichts mehr von dir wissen.
Die Tür zu Liz' Zimmer war geschlossen. Einen Sekundenbruchteil lang war ich versucht, sie zu öffnen und ihr eine gute Nacht zu wünschen, aber dann entschied ich mich dagegen. Vielleicht würde sie es falsch auffassen. Ich fand sie hübsch und sexy, und ich liebte ihre nackten Zehen und diesen Geruch einer Neunzehnjährigen, aber ich wollte sie nicht anmachen, wenn sie es nicht wollte. Dafür genoss ich ihre Gesellschaft viel zu sehr, von ihrem Chili ganz zu schweigen. Der Gedanke, den Sommer ohne sie zu verbringen, hatte mit einem Mal etwas Tristes.
Ich zog mich aus, wusch mich, putzte mir die Zähne und legte mich erschöpft schlafen. Im gleichen Moment wünschte ich mir, dass ich das Bett zuvor mit mehr Sorgfalt gemacht hätte. Das Laken war voller Falten, in denen sich überall Toastkrümel fanden. Ich versuchte, eine erträgliche Position zu finden, aber schließlich musste ich wieder aufstehen und das Bett neu beziehen.
Ich war noch immer damit beschäftigt, das Bettlaken unter die Matratze zu stecken, als es an meiner Tür klopfte.
»David? Ich bin's, Liz.«
»Augenblick«, sagte ich und legte mich wieder hin, um sie nicht sehen zu lassen, dass ich nackt war. »Okay, du kannst reinkommen.«
Sie betrat mein Zimmer und schloss schnell die Tür hinter sich, als fürchte sie sich vor etwas, das hinter ihr her war. Ihr Haar hatte sie noch immer mit dem roten Seidenschal zusammengebunden, sonst trug sie ein knappes T-Shirt und einen winzigen weißen Spitzenslip. Sie setzte sich auf den Bettrand, aber ihr Gesicht hatte einen ängstlichen Ausdruck, keinen verführerischen.
»Irgendetwas rennt auf dem Dachboden hin und her, ich höre es. Das muss diese Ratte sein.«
»Heute Nacht habe ich noch nichts gehört«, log ich.
»Ich bin sicher, dass es eine Ratte ist«, beteuerte sie. »Sie rennt direkt über meinem Zimmer von einer Seite zur anderen.«
»Ich kann nichts dagegen machen, jedenfalls nicht im Moment. Der Kerl von Rentokil kommt morgen her.«
»Na gut. Ich wollte dich nicht stören, aber ich kann Ratten nicht ausstehen. Die lösen bei mir Gänsehaut aus.«
»Mir geht's nicht anders. Sag mir Bescheid, wenn du wieder was hörst. Ich könnte nach oben gehen und versuchen, sie mit einem Schürhaken zu erschlagen.«
Tolle Aussicht, dachte ich bei mir. Vor allem nach dem Fiasko von heute Morgen. Was mich angeht, werde ich mich so weit von Brown Johnson fern halten, wie es nur geht.
Liz zögerte, dann sagte sie: »Hör mal ... ich weiß, dass sich das bestimmt wie ein Vorwand anhört, aber Ratten machen mir entsetzliche Angst. Meinst du, ich könnte heute Nacht bei dir schlafen? Ich lege auch ein Kissen zwischen uns.«
»Na klar.« Es machte mir nichts aus. Eigentlich gefiel mir der Vorschlag sogar ausgesprochen gut. Ich hatte seit Monaten nicht mehr mit einer Frau in einem Bett gelegen. Dabei ging es mir nicht mal so sehr um die >Wagenwartung<, sondern ums Reden.
Es ist erstaunlich, wie schnell man es leid wird, alleine zu lachen, zu lesen, Musik zu hören und zu essen. Aber allein zu schlafen ist am allerschlimmsten. Man könnte genauso gut im Sarg liegen, in die Dunkelheit grinsen, mit seinem Schwanz spielen und auf Gott warten.
»Das geht schon klar«, sagte ich. »Wenn du solche Angst hast.«
»Ich verspreche dir auch, dass ich morgen früh aus dem Zimmer verschwinde, bevor Danny aufwacht.«
Sie schloss die Tür, hob das Laken und legte sich neben mir ins Bett. Ich rutschte zur Seite, bis zwischen uns gut zwanzig Zentimeter Abstand waren. Zwar legte ich beide Arme eng an meinen Körper, aber es fiel mir sehr schwer, die Nähe, die Wärme, das Parfüm und die nervös machende Anwesenheit einer hübschen jungen Frau zu ignorieren.
»Wann hast du es gehört?«, fragte ich.
»Als du die Treppe heraufkamst. Sie rannte quer über den
Dachboden. Es klang unglaublich groß und schwer, aber nachts scheinen Geräusche lauter als sonst, oder?«
Ich sah zur Decke. »Ich glaube, sie ist auch groß und schwer.«
»Hör auf, ich kriege Angst.«
Seite an Seite lagen wir da und lauschten. Wir hörten, wie die Uhr unten im Flur halb eins schlug und draußen eine nächtliche Brise aufkam, die dann durchs Haus strich und die verschlossenen Türen in ihren Scharnieren rappeln ließ.
»Wir sollten das Licht ausmachen und versuchen, ein wenig zu schlafen«, schlug ich nach einer Weile vor.
Dann lagen wir in der Finsternis da. In Bonchurch gab es keine Straßenlaternen, im Garten war keine Lampe, und der Mond schien auch nicht, sodass die Dunkelheit nahezu vollkommen war. Es war so, als habe man einem einen schwarzen Samtbeutel über den Kopf gestülpt. Ich war mir auf eine unerträgliche Weise Liz' Busen bewusst, der gegen meine rechte Schulter drückte. Auch wenn sie ein T-Shirt trug, konnte ich spüren, wie sanft und schwer ihr Busen war. Jetzt, da sie keines ihrer weiten Baumwollkleider trug, die ihre Figur mehr oder weniger verborgen hatten, konnte ich nicht darüber hinwegsehen, dass sie für ihre Körpergröße und Statur äußerst große Brüste hatte. So verführerisch ihr Gesicht auch gewesen war, so waren Janies Brüste im Vergleich Mückenstiche gewesen, was nachvollziehbar machte, warum mir Liz' Brüste so sehr auffielen.
»Ich glaube, dass uns das Schicksal immer eine zweite Chance gibt«, sagte Liz. »Manchmal sind wir blind oder zu beschäftigt, um es wahrzunehmen, das ist alles. Findest du nicht auch, dass es eine Tragödie ist, wenn zwei Menschen, die zusammen wirklich glücklich sein könnten, auf der Straße aneinander vorbeigehen — nur Zentimeter voneinander entfernt - und es niemals wissen? Oder wenn zwei Menschen über Tausende von Kilometern immer näher aufeinander zukommen, und dann verpasst einer von ihnen seinen Zug, weil er seine Zeitung hat fallen lassen und zurückgegangen war, um sie aufzuheben. Dadurch begegnen sie sich niemals.«
»So was muss ja ständig passieren, das ist das Wahrscheinlichkeitsgesetz.«
»Wie sind wir beide zum Beispiel zusammengekommen?«, fragte Liz. »Du hättest anderswo einen Job für den Sommer bekommen können. Du hättest dein Geschäft weiterführen können, du hättest mit Janie zusammenbleiben können. Und es war nur ein Zufall, dass mir jemand diese Adresse hier gegeben hat.«