»Oh, ja, und ich bin vielleicht Dschingis Khan. Und wie sollen sie raus-und reinkommen, ohne dass wir das merken? Und falls es sich wirklich um Kinder handelt, dann würden sie nicht einen solchen Lärm machen. Sie würden doch nicht wollen, dass sie entdeckt werden, oder?«
»Würde es dir etwas ausmachen?«, fragte Liz, warf einen Teebeutel in meinen Becher und drückte ihn mit dem Finger ins Wasser. »Autsch, das ist heiß!«
»Würde mir was etwas ausmachen?«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn es richtige Kinder wären? Vielleicht sind sie aus der Gegend und verstecken sich vor ihren Eltern.«
Ich nahm meinen Becher, musste aber ein oder zwei Minuten lang pusten, bevor der Tee so weit abgekühlt war, dass ich einen Schluck nehmen konnte. »Ich bin nicht sicher«, gab ich zurück. »Mir ist es egal, solange sie kein Chaos veranstalten. Und solange sie mich nachts durchschlafen lassen.«
Liz nahm mir gegenüber Platz. Sie trank ihren Tee so dunkel, dass er fast wie Kaffee aussah.
»Ich weiß«, sagte sie. »Warum stellen wir ihnen nicht eine Falle?«
»Eine Falle? Was denn für eine Falle? Wenn es wirklich Kinder sind, können wir ihnen doch nichts antun.«
»Natürlich nicht. Wir müssen nur den Boden mit Papier auslegen und darauf Ruß oder Talkumpuder streuen. Wenn sie durchlaufen, hinterlassen sie einen Fußabdruck. Das haben wir in der Schule gemacht, um festzustellen, ob sich jemand in unser Zimmer geschliche n hatte.«
»Es wäre den Versuch wert.«
Während wir dasaßen und unseren Tee tranken, hatte ich das Gefühl, dass Fortyfoot House ausgiebig erzitterte. Und irgendwo am äußersten Rand meiner Wahrnehmung glaubte ich, ein Kind schreien zu hören. Sobald ich aber darauf achtete, war kein Geräusch mehr da. Nur diese sonderbare Leere, die man wahrnehmen kann, wenn ein gerade noch vorbeirasender Zug bereits außer Hörweite gelangt ist.
Träume, dachte ich. Einbildung. Als ich aber zum Spülbecken ging, um meinen Becher auszuwaschen, bemerkte ich im Garten einen Schatten, der eigentlich kein Schatten war, sondern ein Mann mit einem großen schwarzen Hut, der zwischen den Eichen Schutz suchte - so wie ein Mann, der um sein Leben rennt, ein Mann, der zu entsetzt ist, als dass er sich umdrehen könnte, um einen Blick auf den unvorstellbaren Jäger zu werfen, der hinter ihm her ist.
6. Kopfjäger
An der Küchentür war ein forsches Klopfen wie von einem Postboten zu hören. Ich blickte vom Daily Telegraph auf, während Danny seine Augen von seiner Schale Honey Nut Loops abwandte. Der Löffel warf einen geschwungenen Lichtreflex auf seine Wange.
Es war Harry Martin, der Rattenfänger. Sein Gesicht war hochrot, er war außer Atem. In seiner Hand hielt er einen Schlapphut. Er trug einen dicken Tweedanzug mit Fischgrätenmuster und hatte einen großen Lederranzen über die Schulter geworfen, in den die Initialen HJM eingebrannt waren.
»Mr. Martin, kommen Sie doch herein.« Er war mir nicht nur willkommen, nach der vergangenen Nacht war ich sogar ausgesprochen froh, ihn zu sehen. »Der Tee ist noch heiß. Oder möchten Sie eine Limonade? Ihr Anzug sieht ja ziemlich dick aus. Ist Ihnen nicht zu warm?«
Er legte seinen Ranzen ab, zog sich einen Küchenstuhl heran und nahm Platz. »Das ist meine Rattenfängerkleidung«, verkündete er. Er zupfte mit Zeigefinger und Daumen am Ärmel. »Gesehen? Es gibt nicht viele Ratten, die sich da durchbeißen können. Das ist nicht so wie diese modernen Nylonoveralls. Hier, fühl mal.« Danny strich widerstrebend über den Stoff. »Und? Was sagst du dazu?«
»Er ist haarig«, sagte Danny.
»Richtig. Er ist haarig. Wie eine Ratte. Ein Rattenanzug, um eine Ratte zu fangen.«
Ich goss ihm eine Tasse Kaffee ein. »Zucker?«, fragte ich.
»Drei Stückchen.«
Er rührte so lange um, bis das Klimpern des Löffels mir so auf die Nerven ging, dass ich ihn fast bitten wollte, endlich damit aufzuhören.
Plötzlich legte er den Löffel fort und sah mich durchdringend an. Ein Auge hatte er zugekniffen, das andere war weit aufgerissen. »Sie hatten letzte Nacht Probleme?«
Ich nickte.
»Ich habe am Himmel das Licht gesehen. Hören konnte ich nichts, weil der Wind in die falsche Richtung wehte. Aber ich dachte mir, dass Sie Probleme haben.«
»Es waren ein paar Geräusche zu hören«, sagte ich und warf Danny einen Blick zu. »Geräusche und auch Licht ... Danny, bist du lieb und frühstückst im Wohnzimmer weiter?«
»Ich sehe gerade Play School.«
Ich schaltete den Fernseher aus. »Du hast Play School gesehen. Jetzt nicht mehr. Und jetzt geh bitte mit deinem Frühstück ins Wohnzimmer, ja?«
»Aber, aber, keinen Streit«, sagte Harry Martin. »Wir können unseren Tee auch im Garten trinken, wir müssen dem jungen Mann doch nicht das Fernsehen vermiesen.«
»Wenn er noch länger fernsieht, bekommt er irgendwann eckige Augen«, entgegnete ich. Trotzdem folgte ich Harry aus der Küche auf die Veranda. Wir setzten uns auf die Mauer, von der aus wir auf den abfallenden Garten und die Sonnenuhr blicken konnten. Die frühe Morgensonne schiert rötlich durch Harrys haarige Ohren. Die See klang sonderbar beruhigend.
»Was für Geräusche?«, fragte Harry.
»Lärmen, Gepolter und Schreie. Schreie von Kindern. Und ein sehr tiefes Geräusch, dass sich anhörte, als rede jemand sehr langsam. Sie wissen schon, wie bei einem Tonband, das zu langsam läuft. Außerdem habe ich ein kleines Mädchen in einem langen Nachthemd gesehen, jedenfalls habe ich das geglaubt. Aber ich schätze, es war wohl nur eine optische Täuschung.«
Ich zögerte. »Zumindest hoffe ich, dass es eine optische Täuschung war.«
Harry holte seine Tabakdose hervor und rollte sich eine Zigarette. »Haben Sie heute Morgen Radio gehört?«
»Nein.«
»Ich höre morgens immer Radio. Leistet mir Gesellschaft, wenn Vera noch schläft.«
»Und?«
»Es kam eine Meldung, dass ein neun Jahre altes Mädchen aus Ryde in der vergangenen Nacht verschwunden ist. Das war mit ein Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«
Harry zündete die Zigarette an und zog die Nase hoch. »Im Radio haben sie gesagt, dass das Mädchen in sein Zimmer eingeschlossen wurde, weil es zu lange draußen geblieben war. Das Fenster war ebenfalls verriegelt, aber irgendwie ist es ausgebüxt. Im Bett, in dem es geschlafen hatte, war eine Vertiefung, mehr nicht. Und es hatte in der Nacht nur sein Schlafhemd an.«
»Ich kann noch immer nicht folgen.«
»Das ist früher auch schon passiert«, erklärte Harry geduldig. »Wenn im Fortyfoot House Licht zu sehen ist und Geräusche zu hören sind, dann verschwindet jedes Mal ein Kind.«
»Sie sehen da doch keine Verbindung, oder? Ich meine, es verschwinden immer wieder Kinder.«
»Aber nicht so wie diese Kinder verschwinden. Sie sind einfach weg, niemand sieht oder hört je wieder etwas von ihnen. Und eine Leiche wird auch nie gefunden.«
Er sah mich gelassen an. »Glauben Sie mir. Jedes Mal, wenn es im Fortyfoot House Licht und Geräusche gibt, höre ich Radio und lese die Zeitung. Und jedes Mal verschwinden Kinder. Ein Kind, manchmal auch zwei. Und sie verschwinden für immer ... als hätten sie nie existiert.«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
»Der Polizei? Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich das der Polizei erzählt habe. Aber ich werde nur ausgelacht. Man hält mich nur für einen verrückten alten Rattenfänger. Fünfunddreißig Jahre Kriegführung gegen die Ratten haben meine grauen Zellen angegriffen, das sagen sie. Jedes Mal rufe ich sie an und sage es ihnen, und jedes Mal werde ich ausgelacht. Dumm wie Schifferscheiße, diese modernen Bullen.«