»Nein.«
»Genau deshalb können Sie auch nicht Brown Jenkin fangen. Er war und er wird sein. Aber er ist nur sehr selten.«
»Doris, können Sie mir irgendetwas über den jungen Mr. Billings erzählen?«
»Was?«, fragte sie mit einem aggressiven Unterton.
»Sie sagten, dass Ihre Mutter viel über die Billings wusste.«
»Ja, sicher. Ich habe gesagt, dass sie im Fortyfoot House geputzt hat. Und was sie nicht über die Billings wusste, war es auch nicht wert, gewusst zu werden.«
»Hat sie jemals Brown Jenkin erwähnt?«
»Nicht oft. Sie machte das nicht so gerne. Jeder in Bonchurch weiß von Brown Jenkin. Einige sagen, dass es stimmt, andere halten es für Unsinn. Wir haben hier ein Sprichwort, wenn jemand zu viel getrunken hat: >Er hat Brown Jenkin gesehen.< Sie wissen schon, anstelle von rosa Elefanten.«
»Und was glauben Sie?«
Doris nahm ihre Brille ab. Ihre Augen wirkten müde und matt, ihre Wangen waren rissig. »Ich habe Brown Jenkin nie selbst zu Gesicht bekommen. Aber als ich jung war, sagten viele meiner Freunde, sie hätten ihn gesehen. Und dann war da noch Helen Oakes, meine beste Freundin zu jener Zeit. Eines Tages verschwand sie, und niemand wusste, was mit ihr geschehen war. Man gab ihrem Vater die Schuld, er wurde zweimal verhört, aber niemand konnte irgendetwas beweisen. Also ließen sie ihn wieder laufen. Es hat ihn trotzdem in den Ruin getrieben. Er musste sein Geschäft verkaufen und wegziehen. Ich habe gehört, dass er sich kurz nach dem Krieg erhängt haben soll.«
»Aber was hat es mit dem jungen Mr. Billings auf sich?«, hakte ich nach.
Sie machte eine Pause und dachte nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Es bringt nichts, Geschichten über Leute zu erzählen, die seit langem tot sind. Vor allem Geschichten aus zweiter und dritter Hand. Das bringt ganz und gar nichts.«
»Vielleicht doch«, sagte ich. »Ich glaube, wenn wir verstehen könnten, was in der Vergangenheit geschehen ist, dann sind wir vielleicht auch in der Lage zu verstehen, was heute im Fortyfoot House geschieht.«
Doris Kemble setzte ihre Brille wieder auf und sah mich eindringlich an. »Meine Mutter hat gesagt, dass der junge Mr. Billings Dinge wusste, die er nicht hätte wissen sollen. Er ist an Orte gereist, an die kein Mensch jemals reisen sollte. Und er hat Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte. Er hat irgendeinen Pakt geschlossen, der mit dem Leben unschuldiger Kinder bezahlt werden musste. Darum wollte ich als Kind nie in der Nähe des Fortyfoot House spielen, und darum gehe ich auch heute noch niemals dorthin.«
»Hat Ihre Mutter gesagt, was das für ein Pakt war und mit wem er ihn geschlossen haben könnte? Hat sie Ihnen irgendeinen Hinweis gegeben?«
Doris Kemble sagte: »Ich mache jetzt Ihre Sandwiches fertig. Da kommt Ihr Junge.«
Ich umfasste ihr Handgelenk.
»Bitte, Doris. Nur ein Ja oder ein Nein. Hat Ihre Mutter Ihnen gesagt, was das für ein Pakt war?«
Sie wartete geduldig, bis ich sie wieder losließ. »Jeder hat nur geraten, es war ein Rätsel. Einige sagten, es sei der Teufel gewesen, aber andere glauben, es sei etwas viel Schlimmeres gewesen. Keiner weiß etwas Genaues.«
Ich ließ sie los. »Tut mir Leid«, sagte ich.
»Keine Ursache«, erwiderte sie. »Das Haus kann jeden verrückt machen.«
Danny kam zum Tisch und setzte sich. »Ich habe sechs Krebse gefangen. Ich habe sie wieder laufen lassen und ich habe ihnen nicht die Beine ausgerissen.«
Ich strich durch sein Haar. »Du warst ja richtig gnädig. Wie wär's mit einem Käsetoast?«
Wir aßen zu Mittag und sahen hinunter zum Strand. Wir sprachen nicht viel, stattdessen genossen wir den Wind und das Meeresrauschen. Nur Doris Kemble verdarb mir die Laune, weil sie mich unablässig so stechend ansah, als wolle sie mir unbedingt noch etwas sagen. Zweimal ertappte ich sie dabei, wie sie zu mir sah und sich auf die Unterlippe biss.
Als wir fertig waren, bezahlte ich und sagte: »Wenn Ihnen sonst noch etwas einfällt, werden Sie es mir doch sagen, oder?«
Sie nickte. Sie tippte die Preise für unser Essen in die
Kasse, und als sie mir das Wechselgeld reichte, sagte sie mit zitternder Stimme: »Es heißt, dass der junge Mr. Billings verheiratet war. Jedenfalls sagte meine Mutter das. Er war mit einer sehr jungen Frau verlobt, die sein Vater aus London mitgebracht hatte, einer Waise, Familienname Mason. Ein sehr sonderbares, wildes Mädchen.«
Ich wartete, das Wechselgeld noch immer in der Hand. »Und?«, fragte ich schließlich.
»Es war so ... der junge Mr. Billings hatte einen Sohn. Aber mit dem Sohn stimmte etwas nicht. Niemand hat ihn jemals gesehen. Die meisten hier dachten, er sei tot, aber niemand hat gesehen, dass er beerdigt wurde. Einige Leute haben getuschelt, dass der Sohn des jungen Mr. Billings behaart und seltsam war. Einige meinten, er sehe wie eine Ratte aus. Manche Leute sagten, der Kerl mit dem braunen Fell im Gesicht, das sei sein Junge, aber genau wusste das niemand.«
»Brown Jenkin«, sagte ich fast tonlos.
Doris Kemble nickte, ihre Lippen hatte sie fest zusammengepresst. Ihr Gesicht glich einer zerschlagenen Fensterscheibe.
»Meine Mutter hat oft davon erzählt, bevor sie starb. Sie war 84, und sie war ein wenig daneben. Sie dachte immer, sie befinde sich wieder in der Zeit, als sie das Haus sauber machte. Der junge Mr. Billings war da ja schon lange tot. Aber die Geschichten, die die Leute ihr erzählten ... Ich würde schon sagen, dass sie bei ihr einen ziemlichen Eindruck hinterlassen haben. Manchmal sprach sie so über den jungen Mr. Billings, als habe sie ihn sehr gut gekannt. Und Brown Jenkin ebenfalls. Brrrr! Mich schaudert, wenn ich nur daran denke.«
»Das kann wohl sein«, pflichtete ich ihr bei. Zur gleichen Zeit dachte ich darüber nach, ob es stimmen konnte, dass das Ratten-Ding der Sohn des jungen Mr. Billings war.
»Können wir gehen?«, fragte Danny ungeduldig.
Aus irgendeinem Grund sah ich aber nicht zu ihm, sondern zu den Cottages, die die Küste säumten und von denen das Strandcafe das letzte Gebäude in der Reihe war. Am Ende des steilen Weges, der vom Fortyfoot House hinabführte, glaubte ich, im Schatten der Bäume einen Mann zu sehen, einen Mann mit einem blassen Gesicht, der komplett in Schwarz gekleidet war. Er sah eindringlich zu uns herüber, seine Augen hatte er zusammengekniffen, damit er uns auf die große Entfernung deutlicher sehen konnte.
Doris Kemble hob den Kopf und bemerkte meine Blickrichtung. Sie drehte sich in die gleiche Richtung, doch genau in dem Augenblick verschwand der Mann, als sei er nichts weiter gewesen als eine optische Täuschung.
Im gleichen Moment kippte direkt hinter Doris' Kopf ein Krug im Regal um und fiel zu Boden, wo er in Stücke zersprang. Eine beunruhigende innere Stimme sagte mir, dass es zwischen dem Verschwinden des Mannes und dem zerbrochenen Krug einen Zusammenhang gab.
Ich nahm den Nachmittag frei, um mit Danny zusammen einige Nachforschungen anzustellen. Hand in Hand spazierten wir auf der kilometerlangen Promenade bis nach Ventnor. Es war ein erfreulicher warmer Tag, das Meer war strahlend blau, und die Möwen kreisten laut schreiend über den Klippen. Wir gingen einen steilen Pfad hinauf, der durch Büsche und Kalkstein führte, bis wir einen Parkplatz und die ersten Seitenstraßen von Ventnor erreichten.
Ventnor hatte nicht viel zu bieten: eine typische britische Küstenstadt mit Bushaltestelle und einem Kino, aus dem man eine Bingohalle gemacht hatte, mit Geschäften, die prallvoll gefüllt waren mit Wasserbällen und Strohhüten und Eimer-und-Schaufel-Sets. Aber es gab eine Pfarrkirche, St. Michael's, und eine Bibliothek - und mehr brauchte ich nicht.
In der engen sonnendurchfluteten und viel zu warmen Bibliothek, die nach Lavendelbohnerwachs roch, saß ich in einer Ecke und studierte das Fach GEISTER und OKKULTE PHÄNOMENE. Ich las über das schottische Schloss im Königreich Fife, in dem einmal im Jahr Blut über die Steintreppe strömte und die große Halle überflutete. Ich las über den