»Nein, aber Leute, über die ich etwas weiß und über die ich etwas mehr wissen möchte.«
»Das waren doch Leute von hier, oder?«, fragte der Vikar. Dann wandte er sich der alten Frau zu, die noch immer mit den Blumenarrangements beschäftigt war. »Nicht zu viele Gladiolen vor der Kanzel, Mrs. Willis. Ich möchte noch meine Gemeinde sehen können«, rief er ihr so laut zu, dass seine Worte noch geraume Zeit nachhallten.
»Ja, sie waren von hier«, erklärte ich. »Sie lebten in Bonchurch.«
»Und Sie sind sicher, dass sie hier geheiratet haben? Sie hätten auch in Shanklin heiraten können.«
»Richtig, aber ich dachte mir, dass ich einfach hier anfange.«
Er sah auf seine Uhr. »Ich gehe jetzt zurück ins Vikariat. Wenn Sie wollen, können Sie sofort mitkommen.«
Wir verließen die Kirche, überquerten die Straße und gingen dann durch eine schmale Gasse zu einem großen spätviktorianischen Haus, das von Lorbeerhecken und einem beschädigten Holzzaun umgeben war. Zwischen den Steinplatten in der Einfahrt wucherte Unkraut, und die braune Farbe an den Türen und den Fensterrahmen blätterte ab.
»Ich fürchte, es sieht alles ein wenig schäbig aus«, sagte der Vikar, während er die Haustür öffnete. »Für einen Luxus wie Farbe ist heutzutage nicht mehr viel Geld übrig.«
Er führte uns in den Flur mit Kachelboden und brauner Holzvertäfelung.
Ein starker Geruch von Fleisch und Kohl zog durchs Haus, woraufhin Danny die Nase rümpfte und sagte: »Schulessen.«
Ich sagte ihm, er solle ruhig sein, doch der Vikar lachte. »Stimmt genau«, sagte er. »Mir hat das Schulessen immer geschmeckt.«
Eine Frau mit einer geblümten Schürze kam aus der Küche und trug ein Goldfischglas. Ihr Gesicht war so ausdruckslos wie ein Teller.
»Mrs. Pickering«, stellte der Vikar vor, woraufhin die Frau flüchtig lächelte.
»Sie können die Bibliothek benutzen«, fuhr der Vikar fort, während er weiter durch den Flur ging. »Die Aufzeichnungen befinden sich alle dort, allerdings nicht in der chronologischen Reihenfolge. Sie sagten 1875?«
»Um 1875. Ich bin nicht ganz sicher.«
»Kennen Sie die Namen der Eheleute?«
»Ja. Der Bräutigam hieß Billings, die Braut Mason.«
Er blieb stehen. »Billings sagten Sie? Und Mason? Aus Bonchurch?«
»Genau, das Fortyfoot House.«
»Oh«, sagte er abweisend. »Das ist allerdings etwas anderes. Sie ... schreiben darüber?«
»Nein, nein, ich bin Handwerker, ich schreibe nichts. Ich wohne zurzeit im Fortyfoot House. Ich soll es ein wenig flottmachen, damit die Eigentümer es verkaufen können.«
»Sie ... was? Sie machen es ... flott?«
»Sie wissen schon, streichen, tapezieren, renovieren.«
»Ach so«, sagte der Vikar. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich so reagiert habe. Es ist nur so, dass ich gelegentlich äußerst unerwünschte Anfragen über Fortyfoot House erhalte ... von den weniger seriösen Zeitungen, Sie wissen schon. Und von Leuten, die Bücher über schwarze Magie und okkulte Geheimnisse schreiben. Ich versuche nach Kräften, sie davon abzubringen.«
»Ich wusste nicht, dass Fortyfoot House so bekannt ist.«
»Ich glaube, >berüchtigt< wäre das passendere Wort«, erwiderte er. Er öffnete die Tür zur Bibliothek und ließ uns hinein. In dem Raum war es stickig und heiß, und es herrschte eine entsetzliche Unordnung. In Leder gebundene Bücher, Fotoalben und vergilbte Pfarrzeitungen stapelten sich in jedem der Regale, und auf dem ausgefransten Teppich fanden sich noch höhere Türme aus Büchern und Zeitschriften. Eine Katze lag zusammengerollt auf der Fensterbank, das Maul leicht geöffnet, während sie wie im Koma schlief. Gleich lieben ihr stand eine leere Flasche Moet & Chandon, daneben eine afrikanische Elfenbeinstatuette.
»Sie wohnen dort?«, fragte der Vikar.
»Richtig. Mr. und Mrs. Tarrant wollen es so schnell wie möglich in einem verkaufsfähigen Zustand haben.«
»Ah, ja. Tja, das ist auch verständlich. Dieses Haus scheint jedem Unglück zu bringen, der es besitzt.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum das so ist?«
Der Vikar nahm seine Brille ab und rieb sich mit dem Handrücken über die Augenbrauen. »Ich habe mich selbst einmal damit beschäftigt. Ich habe mich schon immer für die örtliche Geschichte und für Aberglauben interessiert. Aber über dieses Haus gibt es so viele widersprüchliche Geschichten, dass man nur schwer sagen kann, welche man glauben soll.«
»Aber Sie haben vom jungen Mr. Billings gehört und von der Frau, die er geheiratet hat, dieser Frau namens Mason. Und Sie wissen von Brown Jenkin, oder?«
Mit gesenkter Stimme erwiderte der Vikar: »Wenn man in Ventnor lebt, dann weiß man auch von ihnen. Das ist ein Teil der lokalen Mythologie.«
»Haben Sie dort jemals irgendetwas gesehen? Irgendetwas, das Sie dazu bringen könnte, einiges davon für wahr zu halten?«
Er sah mich eindringlich an: »Darf ich aus Ihrem besonderen Interesse schließen, dass Sie etwas gesehen haben?«
Danny stand am Fenster und streichelte die Katze. »Ich bin nicht sicher, was ich gesehen habe«, antwortete ich dem Vikar. »Mit im Haus lebt zurzeit eine junge Frau. Sie hat sich fast einreden können, dass es Hausbesetzer sind, die sich auf dem Dachboden verstecken und die versuchen, uns Angst einzujagen.«
»Aber Sie glauben das nicht«, sagte der Vikar und strich sein weniges Haar zurück.
»Ich muss sagen, dass es mir schwer fällt, das zu glauben.«
»Sie haben Stimmen gehört? Sie haben grelle, unerklärliche Lichter gesehen?«
»Mehr noch. Ich habe etwas gesehen, das wie eine Ratte aussieht, aber keine Ratte ist. Und ich habe ein Mädchen in einem Nachthemd gesehen, das den Eindruck machte, als sei es tot. Und ich habe jemanden gesehen, der Billings sein könnte; ich bin sogar sicher, dass er es ist. Das Problem ist, das alles wirkt wie eine Halluzination. Es ist immer im gleichen Augenblick wieder vorbei, und ich bin mir nie sicher, ob ich wirklich etwas gesehen oder gehört habe oder ob ich ...«
»... verrückt werde«, führte der Vikar den Satz für mich zu Ende.
»Ja. Ich meine, mein Sohn hat Billings ebenfalls gesehen. Und auch das Mädchen mit dem Nachthemd. Liz ebenfalls. Aber ... ich weiß nicht...«
»Glauben Sie, dass Sie alle die gleichen Halluzinationen haben könnten? Eine Art kollektive Wahnvorstellung?«, fragte der Vikar.
»Ich schätze schon. Ich kenne mich nicht sehr gut mit übernatürlichen Dingen aus oder mit dem Leben nach dem Tod.«
»Tja, so geht es uns allen«, räumte der Vikar ein. »Ach, übrigens, ich heiße Dennis Pickering, aber nennen Sie mich bitte Dennis. Das macht jeder hier. Möchten Sie einen Tee? Meine Frau macht einen schrecklich guten Kümmelkuchen. Und Ihr Sohn ... möchte er vielleicht einen Orangensaft?«
Danny rümpfte die Nase. Für einen Jungen, der mit Pepsi Light und Lucozade Sport groß geworden war, hatte die Vorstellung eines lauwarmen Orangensafts etwas äußerst Unappetitliches.
»Vielleicht möchtest du lieber einen Joghurt?«, schlug Dennis Pickering vor.
Dannys Gesichtsausdruck wechselte von leicht angewidert zu etwas, das an den Glöckner von Notre Dame erinnerte.
»Er hat gerade gegessen«, erklärte ich.
Pickering räumte einen Stapel Papiere und Bücher zur Seite, und wir nahmen Knie an Knie auf dem Rand des verstaubten braunen Ledersofas Platz.
»Da ist noch etwas«, sagte ich ihm. »Etwas, das nur ich gesehen habe und das mich an der Theorie der Massenhysterie zweifeln lässt. Letzte Nacht so gegen zwei Uhr sah ich etwas in einer Ecke an der Decke in meinem Schlafzimmer. Es war zuerst nur ein verschwommenes Licht, aber dann veränderte es sich langsam zu einer Ordensschwester oder einer Nonne. Es war nicht richtig klar zu sehen. Es hat mich zu Tode erschreckt, um ehrlich zu sein. Ich schrie dieses ... dieses Etwas an, und dann verschwand es.«