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Pickering nickte nachdenklich. Er legte seine knochigen Hände aneinander, als wolle er beten. Und lange Zeit sagte er gar nichts.

»Sie glauben mir doch, oder?«, fragte ich und lachte nervös. Mit einem Mal kam mir der Gedanke, dass er mir womöglich nicht glaubte und nur überlegte, ob er die Polizei oder die nächste Klapsmühle anrufen sollte.

»Guter Mann!« Er schlug seine Hand auf mein Knie, zog sie dann aber schnell zurück, als er erkannte, dass seine Geste falsch ausgelegt werden könnte. »Ja ... ja, ich glaube Ihnen. Alle meine Vorgänger wussten davon, dass es im Fortyfoot House etwas gibt, was man als »spirituelle Unregelmäßigkeiten bezeichnen könnte. Ich habe lediglich überlegt, was ich Ihnen raten kann und was ich eigentlich tun kann.«

»Gibt es überhaupt irgendetwas, was Sie tun können? Könnte man Fortyfoot House beschwören? Oder können all diese Geister ruhig gestellt werden? In den Filmen geht so was immer.«

Pickering seufzte und sagte: »Ja, in den Filmen geht das immer. Aber das hier ist die Wirklichkeit, Mr. Williams. Die Rastlosen und die, die tot sein sollten, sind in der Realität nicht so einfach zu besänftigen wie in der Fantasie.«

»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was diese Störungen verursacht?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte fast bedauernd seinen Kopf. »Ich kenne die Geschichte des Fortyfoot House sehr gut. Und ich habe auch Lichter gesehen und Geräusche gehört, die man übernatürlichen Einflüssen zuschreiben könnte. Aber was sie genau sind und was sie wollen ... tja, da habe ich absolut keine Vorstellung. Und auch keiner meiner Vorgänger in dieser Pfarrei konnte etwas dazu beitragen. Es ist so, als lebe man gleich neben einem aktiven Vulkan. Es behagt einem vielleicht nicht, aber man muss sich damit abfinden.«

Ich holte die Kopie hervor, die die Frau in der Bibliothek für mich gezogen hatte. »Ich habe da eine Theorie, na ja, es ist weniger eine Theorie, es ist mehr so ein Gefühl, dass Fortyfoot House an zwei Orten gleichzeitig existiert. Genauer gesagt, in zwei Zeiten gleichzeitig. Hier, sehen Sie. Die alten Sumerer bauten Zikkurats, die ihnen angeblich den Zugang zu einer anderen Welt ermöglichten, die der gleiche Ort war, nur noch viel älter.«

Dennis Pickering faltete die Kopie auseinander. »Das ist äußerst interessant«, sagte er. »Ich habe davon gehört. Angeblich soll es nicht nur eine prähistorische, sondern sogar eine >vormenschliche< Zivilisation in Arabien gegeben haben, die Mnar, deren Hauptstadt Ib war. Einigen Historikern zufolge, wie beispielsweise Dr. Randolph Carter... ah, ja, sehen Sie doch, hier unten wird Carter sogar erwähnt... also, es heißt, dass die Sumerer in der Lage gewesen sein sollen, in der Zeit zurückzureisen, um nach Ib zu gelangen. Möglich gemacht wurde ihnen das angeblich durch bestimmte mathematische Formeln und ungewöhnliche architektonische Strukturen. Es ist faszinierend, wenn auch ein wenig überholt. Ich habe das meiste darüber auf dem College gelernt. Aber es ist meiner Meinung nach sehr suspekt.«

Er nahm seine Brille ab und sah mich an. »Ich kann allerdings nicht sehen, wo der Zusammenhang zum Fortyfoot House sein soll. Meiner Meinung nach ist Fortyfoot House einfach nur eines von diesen Gebäuden, die von der Verderbtheit derer heimgesucht werden, die dort einmal gelebt haben. Und von der Tragödie derjenigen, die dort gestorben sind. Ein klassischer Fall von Heimsuchung. Ich habe sogar selbst schon einen kleinen Artikel darüber geschrieben, Die

Heimsuchung von Fortyfoot House. Er wurde Anfang der siebziger Jahre in der Church Tines veröffentlicht.«

Er gab mir die Kopie zurück. »Reverend John Claringbull war der Vikar von St. Michael's, als Fortyfoot House gebaut wurde. Er kannte Mr. Billings sehr gut. Den alten Mr. Billings, nicht den jungen Mr. Billings. Der alte Mr. Billings war ein bekannter Menschenfreund. Als er beschloss, Fortyfoot House zu bauen, um Waisenkinder aus dem Londoner East End aufzunehmen, stellte ihm Reverend Claringbull jede erdenkliche paslorale Unterstützung zur Verfügung. Es ist alles in seinen Tagebüchern festgehalten, die noch immer hier im Vikariat sind, wo sie auch hingehören. Mit dem Bau von Fortyfoot House lief alles nach Plan, bis der alte Mr. Billings eines Tages aus London ein elternloses Mädchen mitbrachte, das sein Dienstmädchen und seine Köchin und Putzfrau werden sollte. Mr. Billings betrachtete die moralische Errettung dieses Mädchens als eine der größten Herausforderungen seines Lebens - eine Herausforderung, wie sie sich ihm noch nie gestellt hatte. Das Mädchen war vierzehn Jahre alt und hatte seit dem zehnten Lebensjahr als Prostituierte gearbeitet. Dieses Mädchen ... diese junge Frau war jenseits aller Vorstellungskraft verdorben. Es hieß, dass sie in den finstersten Straßenzügen der Londoner Docks aufgewachsen war, zwischen Ratten, Huren, Kriminellen und anderen Menschen, deren moralische Verwerflichkeit Sie sogar noch heute schockieren würde.«

Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er mit seinen Schilderungen fort: »Laut Mr. Billings hatte Dr. Barnardo diese junge Frau aus der Obhut eines namenlosen und verdreckten Wesens gerettet, das im Zentrum aller Rattennester in den Londoner Kaianlagen lebte. Er konnte nicht sagen, ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelte, nicht mal, ob es überhaupt menschlich war. In Dr. Barnardos Tagebüchern können Sie nachlesen, dass es in fast völliger Dunkelheit dasaß, umgeben von den Kadavern Tausender großer Kanalratten, von denen einige so alt waren, dass sie schon zu Staub zerfallen waren, während andere erst vor relativ kurzer Zeit ihr Leben gelassen hatten und teilweise mumifiziert waren. Diese junge Frau hatte zu Füßen dieses Wesens gesessen, sie war in schmutzigen Samt gekleidet und hatte - laut Dr. Barnardo - einen grotesken und gutturalen Gesang rezitiert, immer und immer wieder. Auch wenn er den Text nicht verstehen konnte, verspürte Dr. Barnardo unglaubliches Entsetzen, fast so, als sei es ein Gebet an Gevatter Tod persönlich.«

Pickering sah mich nachdenklich an, während er abermals eine Pause machte. »Die junge Frau setzte sich heftig zur Wehr«, sprach er dann weiter, »als Dr. Barnardo sie mitnehmen wollte. Schließlich holte er sich aber Unterstützung in Gestalt von zwei kräftigen jungen Freunden, und sie erwischten sie eines Nachts in der Slugwash Lane, um sie zu Mr. Billings Haus in London zu bringen. Obwohl sie eingeschlossen wurde, versuchte sie zweimal zu entkommen. Schließlich entschied der alte Mr. Billings, sie mit auf die Isle of Wight zu nehmen, auch wenn Fortyfoot House noch längst nicht fertig gestelll war. Er wollte sie nur so weit wie möglich von London fortbringen. Er glaubte, dass er gemeinsam mit Mr. Claringbull aus der Hafendirne eine saubere, anständige und folgsame junge Frau machen könnte.«

»Das Pygmalion-Syndrom«, warf ich ein. »Aus einem Blumenmädchen eine Dame von Welt machen. >Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn.<«

»Ja, genau«, pflichtete Pickering mir bei. »Leider verliefen die Bemühungen des alten Mr. Billings, die Rolle des Professor Higgins zu spielen, gründlich verkehrt. Ist Ihr Junge sicher, dass er keinen Joghurt möchte? Meine Frau macht ihn selbst.«

»Nein, danke, wirklich nicht.«

»Also, ich muss sagen, dass ich es ihm nicht verübeln kann. Ich hasse ihren Joghurt.«

»Was lief zwischen dem alten Mr. Billings und der jungen Frau aus dem Ruder?«, hakte ich nach.

»Alles, guter Mann, einfach alles! Die junge Frau war so entschlossen und verschlagen und charakterstark, dass Mr. Billings ¿Ar nach kurzer Zeit buchstäblich aus der Hand fraß. Und Mr. Claringbull brachte sie dazu, ihm widerspruchslos zur Seite zu stehen. In Mr. Claringbulls Aufzeichnungen ist das alles sehr lebhaft geschildert. Ihre Lektüre ist wirklich sehr nervenaufreibend. Laut Mr. Claringbull bestand sie fast vom ersten Augenblick darauf, dass Billings Hunderte von Guineen für edle Kleidung und für Schmuck ausgab, und auch wenn sie erst vierzehn war, kleidete und schminkte sie sich wie eine Erwachsene. Sie verlangte, dass er ihr Brandy kaufte, was er auch tat. Und Morphium. Das beschaffte er sich bei Dr. Bartholomew in Shanklin. Sie schlief mitjedem Mann und jedem Jungen, der ihr gefiel. Und sogar« - er senkte seine Stimme so sehr, dass sie kaum noch hörbar war - »mit Ponys und Hunden.«