»Mein Gott«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, welche Reaktion er von mir erwartete.
»Das Sonderbarste aber war, dass sie unverrückbar darauf beharrte, dass er die Architektenpläne für das Dach des Fortyfoot House änderte. Sie präsentierte Zeichnungen und Berechnungen, die die Architekten in Erstaunen versetzten. Die weigerten sich im Übrigen, sie umzusetzen, weil sie aus ihrer Sicht technisch nicht korrekt waren. Ihrer Meinung nach konnte man ein solches Dach nicht bauen. Aber die junge Frau war so beharrlich in ihrer Überzeugung, dass der alte Mr. Billings schließlich einlenkte - so wie immer. Die Handwerker befolgten exakt ihre Pläne und bauten das Dach so, wie Sie es heute kennen. Wie Sie sehen, war es möglich, das Dach zu bauen. Warum sie aber so sehr darauf bestanden hatte, dass es geändert wurde, und wieso sie in der Lage war, die notwendigen Zeichnungen zu erstellen, das hat niemand jemals erfahren. Mr. Claringbull sah den alten Mr. Billings immer seltener, und wenn er ihm begegnete, dann wirkte er erschöpft und gereizt. Weder wusste er, welcher Tag noch welcher Monat war.«
Pickering ließ seine Worte eine Weile wirken, dann sprach er weiter: »Jedes Mal, wenn Mr. Claringbull die junge Frau zu Gesicht bekam, fühlte er einen kalten Hauch, für den er keinerlei Erklärung finden konnte. Wenn er sich mit ihr in einem Raum aufhielt, verließ er ihn nahezu augenblicklich mit einem schuppigen Ausschlag, wie trockene Ekzeme. Und wenn er zum Abendessen ins Fortyfoot House eingeladen wurde und neben ihr sitzen musste, zog er sich nach der Tomatensuppe zurück und verbrachte den größten Teil des Abends damit, sich im Garten zu übergeben. >Ich erbrach Dinge, die ich nicht gegessen hatte<, schrieb er. >Ich erbrach Dinge, die sich aus eigener Kraft bewegten, Dinge, die im Gras zuckten und zappelten und dann zur schützenden Hecke davonkrochen.<«
Wieder machte Pickering eine Pause und sah von links nach rechts, als befürchte er, von einem Geist belauscht zu werden, der sich an ihm rächen könnte.
»Das war natürlich Mr. Claringbulls Version der Geschichte. Wenn Sie sie so betrachten, dann ist es wirklich eine entsetzliche und beunruhigende Geschichte. Aber es gab andere, die sich nicht so sicher waren, ob Mr. Claringbull völlig bei Verstand war.« Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Wenn Sie die Aufzeichnungen des Küsters lesen und wenn Sie die Begabung haben, zwischen den Zeilen zu lesen, dann könnte man sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass Mr. Claringbull gar nicht von Mr. Billings'jungem weiblichen Schützling abgestoßen wurde, sondern sich vielmehr so sehr zu ihr hingezogen fühlte, dass seine heftige körperliche Reaktion durch seine eigenen Scham-und Schuldgefühle ausgelöst wurde. Mr. Claringbull war verheiratet, aber nach allen Berichten über seine Frau zu urteilen, litt sie ewig unter Rückenschmerzen. Das führte zwangsläufig dazu, dass Mr. Claringbull weit weniger ... ähem, eheliche Gefälligkeiten erhielt, als er sich gewünscht hätte.«
Danny drehte sich plötzlich um und lächelte ihn freundlich an. Dennis Pickering war peinlich berührt und lief rot an, während er das Lächeln erwiderte.
»Schon gut«, beschwichtigte ich. »Sie müssen nicht in Rätseln sprechen. Danny weiß bereits alles über das Paarungsverhalten von Amöben, Seegurken und Wüstenrennmäusen. Glauben Sie mir, das, was erwachsene Menschen machen, wird ihn nicht wirklich verderben. Wahrscheinlich würde es ihn nicht mal interessieren.«
»Ja, ich glaube, Sie haben Recht«, stimmte Pickering mir zu und lehnte sich zurück. »Nehmen Sie Schnupftabak?«
»Noch nie probiert.«
»Gut, das sollten Sie auch nicht.«
Er holte eine kleine Schnupftabaksdose hervor und begann - von Danny völlig fasziniert beobachtet - mit jedem Nasenloch ein wenig Pulver zu inhalieren und anschließend zu niesen. Dann saß er da, während seine Augen zu tränen begannen.
Während er einen erneuten Niesreiz zu unterdrücken versuchte, sagte ich: »Mrs. Kemble vom Strandcafé hat mir gesagt, dass der alte Mr. Billings schließlich getötet wurde.«
»Oh, Mrs. Kemble! Sie hat am Fortyfoot House einen Narren gefressen. Warum, weiß ich allerdings nicht. Einmal bat sie mich, das Gartentor zu segnen, erklärte mir aber nicht den Grund dafür. Sonderbare Frau. Ihr Mann war eine Art Kriegsheld, er fiel in Dieppe. Sie betreibt ein ziemlich gutes Café.«
»Sie wissen nicht, wie der alte Mr. Billings starb?«
Pickering schnäuzte seine Nase in drei Tonlagen und hörte sich dabei an wie die Hupe eines Maserati. »So wie bei allem, was Fortyfoot House angeht, gibt es viele verschiedene Geschichten. Ich glaube, die am weitesten verbreitete besagt, dass der alte Mr. Billings von einem Blitz getroffen wurde. Das ereignete sich aber erst lange nach der Fertigstellung des Waisenhauses, zu einer Zeit, als sein Sohn ihm bereits half. Das nächste Mal tauchte der Name Billings in den Aufzeichnungen der Pfarrei auf, als der junge Mr. Billings Mr. Claringbull bat, ihn mit dieser jungen Frau zu vermählen. Das war auch das erste Mal, dass ihr Name irgendwo Erwäh-nung fand: Kezia Mason. Mr. Claringbull musste einen langen Brief schreiben, um der Diözese zu erklären, dass Kezia Masons gottloses Verhalten eine kirchliche Trauung zu einem Ding der Unmöglichkeit machte. Daneben gab es Gerüchte im Dorf, der junge Mr. Billings sei selbst in irgendeinen gottlosen Geheimbund verwickelt und die Kapelle im Fortyfoot House werde für Tieropfer und schwarze Messen benutzt. Diese Gerüchte wurden ohne Zweifel durch die merkwürdigen Gestalten geschürt, die sich im Fortyfoot House aufhielten, nachdem der junge Mr. Billings die Leitung übernommen hatte. »Gesuchte Mörder und zweifelhafte Charaktere<, hatte Mr. Claringbull sie genannt.«
Pickering warf Danny einen kurzen Blick zu. »Mr. Claringbull behauptete in seinem Brief, der junge Mr. Billings verfüge über magische Kräfte. Einmal soll er ihn klar und deutlich an einem Fenster des Fortyfoot House gesehen haben, und keine halbe Minute später habe er auf dem Weg hinunter zur Küste vor ihm gestanden. Dieser Brief an den Bischof besiegelte Mr. Claringbulls Schicksal. Verständlicherweise glaubte man, er sei verrückt geworden. Er wurde als Vikar von St. Michael's abberufen - zunächst wurde er zwangsbeurlaubt und dann nach Parkhurst als Assistent des Gefängnisgeistlichen versetzt. Nach nur einem Jahr wurde er von einem Gefangenen erstochen, der sagte, er sei der Teufel, dessen Augen in der Dunkelheit rot glühten.«
»Mein Gott«, sagte ich wieder.
»Ja ... Es war ein schreckliches Ende.«
»Und was ist mit dem jungen Mr. Billings? Was können Sie mir über ihn erzählen?«
»Nur wenig, fürchte ich. Mr. Claringbulls Nachfolger war Geoffrey Parsley, der allem Anschein nach ein sehr direkter Kerl war, der sich mehr für Hunde und neue Kartoffeln interessierte als für das Werk des Teufels. Er nahm von den Gerüchten über Fortyfoot House kaum Notiz. Einmal notierte er allerdings in seinem Tagebuch, er sei an einem Sommermorgen dem jungen Mr. Billings und Kezia Mason auf dem
Weg in die Stadt begegnet und habe einen äußerst kalten Hauch gefühlt, als sie an ihm vorübergingen. >Als sei der Fischwagen voller Eis und Heilbutt<«
»Mrs. Kemble sprach davon, dass der junge Mr. Billings einen Sohn hatte.«
»Das wurde erzählt. Kezia Mason wurde in hochschwangerem Zustand gesehen, und zu der Zeit, da man annehmen konnte, dass die Geburt unmittelbar bevorstand, war die Kutsche eines Doktors wiederholt vor dem Fortyfoot House gesehen worden. Aber das Baby hat niemand je zu Gesicht bekommen.«