»Was ist mit Brown Jenkin?«, fragte ich. »Mrs. Kemble sagte etwas in der Art, dass Brown Jenkin und der Sohn des jungen Mr. Billings - sofern er je einen hatte - ein und dieselbe Person gewesen sein könnten.«
»Das ist mir auch zu Ohren gekommen. Aber Brown Jenkin soll doch angeblich eine Ratte sein, oder nicht? Ganz egal, wie missgestaltet ein Kind auch ist, man wird es bestimmt nicht mit einer Ratte verwechseln können.«
»Wird das Kind nicht in den Aufzeichnungen erwähnt?«
»Mit keinem Wort.«
»Es muss aber doch irgendwelche Aufzeichnungen über gestorbene Kinder geben.«
Dennis Pickering nickte mit finsterer Miene. »Oh, ja. Natürlich. Darüber hat Geoffrey Parsley mehr als genug geschrieben. Das war ... warten Sie ...«
»1886«, half ich ihm auf die Sprünge. »Jedenfalls steht das auf allen Grabsteinen.«
»Ja, sie haben Recht, das muss 1886 gewesen sein. Nicht nur auf der Insel hat man darüber gesprochen. Dr. Barnardo begab sich persönlich ins Fortyfoot House, um zu sehen, ob er irgendetwas tun konnte, doch alle Kinder starben.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum sie starben? Auf den Grabsteinen steht darüber nichts geschrieben.«
Pickering schüttelte knapp den Kopf. »Keine Ahnung. Es gab damals alle möglichen Epidemien. Wir vergessen gerne, wie anfällig die Menschen seinerzeit für Krankheiten waren, die wir heute als nebensächlich betrachten. Vor dem Krieg war mein Großvater mit Dr. Leonard Buxton befreundet, dem Quästor des Exeter College. 1939 starben Buxton und seine Frau innerhalb von nicht einmal 36 Stunden an Lungenentzündung, obwohl sie beide erst um die vierzig waren. Heute ist so etwas unvorstellbar.«
Wieder schüttelte er seinen Kopf. »Ich glaube, es wurde davon gesprochen, dass die Kinder durch Scharlach dahingerafft wurden. Der junge Mr. Billings rief einen Spezialisten aus London herbei. Er machte viel Wirbel darum, wohl, um allen im Distrikt zu zeigen, dass er den Kindern die beste Hilfe bot. Aber dieser Spezialist war laut Geoffrey Parsley ein höchst rätselhafter Typ. Ein sehr verschwiegener Mann namens Mazurewicz, der kaum ein Wort Englisch sprach und die untere Hälfte seines Gesichts stets mit etwas bedeckte, das wie ein verschmutzter weißer Verband aussah. Ob er nun ein Spezialist war oder nicht - die Kinder starben alle innerhalb einer Woche und wurden neben der Kapelle von Fortyfoot House beigesetzt. Aber das wissen Sie ja. Niemand machte viel Wirbel um diese Sache. Schließlich war es normal, dass Kinder an solchen Krankheiten starben - auch in so großer Zahl. Es gab viele Internate, die sogar komplett geschlossen werden mussten, weil sich Scharlach oder Pfeiffersches Drüsenfieber dort ausgebreitet hatten. Und zudem waren es Waisen aus dem East End, die keine Verwandten hatten, die sich um ihr Schicksal kümmerten.«
»Mrs. Kemble sagte, der junge Mr. Billings habe schließlich den Verstand verloren«, warf ich ein.
»Darüber gibt es auch viele verschiedene Geschichten. Die Leute sagten, dass er verschwand und wieder auftauchte. Angeblich wurde er zur gleichen Zeit an zwei Orten gesehen - in Old Shanklin Village und in Atherfield Green. Ich glaube, die Fantasie der Bewohner war ein wenig überreizt.«
»Und was geschah mit Kezia Mason?«
»Um sie ranken sich gleichfalls zahlreiche fantastische
Schilderungen. Letztlich schien es aber nur so zu sein, dass sie vom Leben im Fortyfoot House gelangweilt war und daraufhin verschwand. Ihr Verschwinden könnte aber durchaus zum Nervenzusammenbruch des jungen Mr. Billings geführt haben. Er hatte mehreren Menschen, darunter auch Mr. Claringbull, erklärt, er liebe sie mehr als seinen gesunden Menschenverstand. Offenbar trank er sehr viel und nahm Morphium. Neben der Tragödie im Waisenhaus könnte der Verlust von Kezia Mason ihm den Rest gegeben haben. Er beging schließlich Selbstmord.«
Ich sah auf meine Uhr. Es war schon fast halb vier. Zeit, um zum Fortyfoot House zurückzukehren und noch ein wenig Farbe abzulösen, bevor mir der Makler einen Besuch abstattete und feststellte, dass ich gar nicht dort war.
»Ich muss gehen«, sagte ich zu Pickering. »Aber ich muss unbedingt wissen, was ich unternehmen kann. Ich war schon drauf und dran, alles zu packen und abzureisen. Aber falls Sie diese Geister besänftigen können ...?«
»Sind Sie wirklich davon überzeugt, dass Ihre Fantasie Ihnen keinen Streich gespielt hat?«, fragte Pickering.
»Absolut. Ich habe nicht den leisesten Zweifel.«
»Nun ... ich muss sagen, dass ich es nicht für eine Lösung halte, beim ersten Anzeichen von Geistern davonzulaufen«, sagte er. »In den meisten Fällen sind diese Geister nichts weiter als unsere eigenen Ängste, die sich in visuellen Täuschungen ausdrücken. Die wenigen >echten< Geister sind vielleicht Furcht erregend, aber normalerweise harmlos. Nur wenn gewaltige und entsetzliche Schandtaten begangen worden sind, kann das Haus die Aura des Bösen annehmen. Eine Aura, die jeden bedrohen oder belasten kann, der später in diesem Haus lebt.«
»Glauben Sie, dass das auf Fortyfoot House zutrifft?«, fragte ich ohne Umschweife.
»Ja, ich vermute schon«, erwiderte er.
»Was kann ich tun? Ich muss dort wohnen und arbeiten. Mein Sohn muss auch dort wohnen und Liz ebenfalls.«
»Ich schätze, ich könnte vorbeikommen und mich dort umsehen«, sagte er, klang aber nicht allzu begeistert.
»Das wäre machbar?«, fragte ich ermutigt. »Ich kenne außer Ihnen niemanden, an den ich mich wenden könnte. Der arme alte Harry Martin konnte mir nicht helfen, und ich glaube, Rentokil kann auch nicht wirklich etwas erreichen.«
Pickering reagierte mit einem ironischen Lächeln. »Ich hätte nicht gedacht, dass einmal der Tag kommt, an dem die Kirche um geistigen Beistand gebeten wird und es dabei nur auf den dritten Platz nach einem Rattenfänger und einem landesweit arbeitenden Kammerjäger schafft.«
»Tut mir Leid. Ich habe eine Weile gebraucht, bevor ich an Geister oder Phantome oder >spirituelle Unregelmäßigkeiten< glauben konnte.«
Pickering führte uns durch den Flur, in dem es immer noch nach Schulessen roch. »Wie wäre es heute Abend, nach dem Abendgebet?«, schlug er vor. »Halb neun?«
»Das klingt gut. Es macht Ihnen doch nichts aus, einen Blick auf den Dachboden zu werfen, oder? Ich werde auch noch eine brauchbare Taschenlampe kaufen.«
»Sie könnten es mit einem kleinen Gebet versuchen«, sagte Pickering, während er uns die Haustür öffnete. »Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Seelen derjenigen, die das Fortyfoot House heimsuchen.«
»Ja, ich glaube, das ist machbar.«
Er reichte erst mir die Hand, dann Danny.
Während wir über die Einfahrt gingen, fragte mich Danny: »Warum hat der Mann Staub in seine Nase getan?«
»Das war Schnupftabak. Anstatt zu rauchen, atmet man ihn ein.«
»Warum?«
Ich ging noch zwei oder drei Schritte weiter, dann blieb ich stehen. »Das weiß allein der liebe Gott«, sagte ich schließlich zu Danny.
10. Die Abendflut
Wir trafen Liz um kurz nach fünf an der Bushaltestelle vor dem Tropical Bird Park. Ganze Busladungen von Touristen strömten in Scharen auf den Parkplatz. Wie Scherenschnitte tanzten ihre Schatten über den Asphalt. Väter mit Bierbauch und Baseballkappe mit dem Aufdruck >Born to Kill<, in fluoreszierende Shorts und viel zu enge TShirts gekleidet. Blonde Mütter mit schlecht sitzender Dauerwelle, in hautengen Radlerhosen, auf kleinen weißen Stilettos. Schwitzende, übergewichtige Kinder mit >New Kids on the Block<-TShirts, grauen Socken und Sportschuhen. Durch das monotone Gewummer der Autoradios konnten wir die lauten und durchdringenden Schreie der verschiedenen Vögel hören, die aus dem Park nach draußen schallten.