»Das lernt man in Mount Browne. Das war noch zu der Zeit, als ich bei der Polizei von Surrey war.«
»Warum haben Sie sich versetzen lassen?«
Er klappte das Notizbuch zu. »Ich dachte, hier werde es ruhiger zugehen. Meine Frau war der Meinung, dass es hier viel zu ruhig war, und hat mich verlassen. Und jetzt sitze ich hier und habe es mit zwei brutalen Todesfällen in nur zwei Tagen zu tun.«
»Stellen Sie mir keine weiteren Fragen?«
»Nicht nötig. Ein Nachbar von Mrs. Kemble hat sie noch lebend gesehen, nachdem Sie und Danny gegangen waren. Und Reverend Pickering hat Ihren Besuch bei ihm bestätigt. Wenn Sie nicht gerade in der Lage sind, sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten, dann ist es einfach unmöglich, dass Sie Mrs. Kemble etwas angetan haben.«
Miller trank seinen Tee in kleinen Schlucken aus, dann stand er auf, stellte den Becher ins Spülbecken und sagte: »Vielleicht komme ich noch mal wieder. Sie bleiben doch noch hier, oder?«
Ich war sicher, dass ich ein schwaches pelziges Rascheln hinter der Fußleiste hörte. Hatte Detective Sergeant Miller es auch wahrgenommen?
»Ja«, antwortete ich. »Ich bin vorläufig noch hier. Sie haben ja bemerkt, wie mein Wagen aussieht.«
»Das wollte ich Sie ohnehin noch fragen«, sagte Miller, während ich ihn zur Haustür brachte.
»Höhere Gewalt.«
»Hmh«, machte er. Während er fortging, hörte ich hinter mir wieder dieses Scharren.
11. Der Garten von gestern
Um kurz vor acht rief Reverend Pickering an, um zu sagen, dass er sich ein wenig verspäten würde. Zwischen seinen Damen, die für die diesjährige Erntedankfeier die Kirche dekorierten, hatte es einen Streit gegeben. »Ich fürchte, einige meiner Frauen sind sehr entschlossen. Fast wie Walküren.«
Ich stand im Flur und blickte währenddessen auf das Foto >Fortyfoot House, 1888<. Der junge Mr. Billings hatte mittlerweile die halbe Strecke über den Rasen zurückgelegt und näherte sich der Stelle, an der sein Schatten auf ihn wartete. Neben ihm befand sich eine dunkle kleine Gestalt, die schlichtweg alles hätte sein können. Ein Fleck auf dem Negativ, ein Tintenklecks, ein Schatten. Oder Brown Jenkin, das Rattenwesen, das durch Fortyfoot House rannte und suchte ... aber nach was? Auf dem Dachboden gab es nichts zu essen, und es gab keine Anzeichen dafür, dass Ratten an den Möbelstücken genagt oder nach einem Weg in die Vorratskammer gesucht oder sich Nester aus alten Zeitungen gebaut hatten.
Falls Brown Jenkin eine Ratte war, dann eine verdammt seltsame. Wir hatten über Nacht in der Küche Käse offen herumliegen lassen, der nicht angerührt worden war. Es hatte auch keine Versuche gegeben, die Vorratskammer zu plündern. Allerdings fanden sich darin in erster Linie Corned-Beef-Dosen und Spaghetti-Packungen. Entweder war Brown Jenkin gar keine Ratte, oder er bevorzugte anderes Essen.
Wir aßen Lasagne und Salat und tranken den Wein aus. Danny war schläfrig, sodass ich ihn gegen Viertel nach neun huckepack nahm und nach oben brachte. Nachdem ich ihn zugedeckt hatte, sagte er: »Diese Taschenkrebsc können doch nicht an Land kommen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«
»Kann ich das Licht anlassen?«
»Natürlich.«
»Die Taschenkrebse können nicht ins Haus kommen, oder?«
»Nein, das können sie nicht. Sie müssen im Wasser bleiben, sonst sterben sie. Hör mal, Danny, du hast heute etwas Schreckliches gesehen, aber die Taschenkrebse haben Mrs. Kemble nicht getötet. Sie hat sich das Genick gebrochen, vermutlich ist sie von den Felsen gestürzt. Die Taschenkrebse machen keinen Unterschied darin, welches Fleisch sie essen. Sie essen tote Vögel, Muscheln, eigentlich alles. Manchmal ist die Natur grausam.«
Ich strich sein Haar zurück und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut«, sagte ich. »Und dass du mir ausschließlich von einer großen Tüte Lakritz träumst.«
»Lakritz mag ich nicht mehr.«
»Na, dann träum von etwas, was du magst.«
»Ich mag Frauen.«
»Frauen ? Oh, du meinst sicher Mädchen?«
»Nein, Frauen. Ich hasse Mädchen.«
Oha, dachte ich, während ich die Tür leise zuzog. Wie der Vater, so der Sohn. Ich blieb einen Moment lang im Flur stehen und lauschte auf das verstohlene Scharren hinter den Fußleisten. Oder auf diese tiefen unverständlichen Gesänge. Doch heute Nacht schien Fortyfoot House besonders ruhig zu sein, als habe es sich heimlich in zwei Meter dicke Watte eingepackt.
Ich ging nach unten. Liz saß im Wohnzimmer im Schneidersitz auf dem Sofa und sah fern. »Haben wir noch Wein?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
»Und was sollen wir dann Reverend Pickering anbieten?«
»Tee, dachte ich. Vikare trinken doch immer Tee, oder?«
»Nicht die, die ich kenne.«
»Na gut«, erwiderte ich. »Dann gehe ich noch mal zum Laden. Ich glaube, ich habe noch genug Geld für eine Magnumflasche Plonko de France.«
Der Abend war warm, also verzichtete ich auf einen Mantel. Ich zog die Haustür leise ins Schloss, damit Danny nicht hörte, dass ich wegging.
Wenn man den Großteil seines Lebens in dem 24-stün-digen Verkehrslärm von London oder Brighton verbracht hat, dann können Städtchen wie Bonchurch in der Nacht beunruhigend still sein. Auf der anderen Seite kann man aber auch höchst unerwartete Geräusche wahrnehmen, die so klingen, als stürze eine tote Eule durch die Zweige eines Baums zu Boden und reiße dabei vertrocknetes Laub mit. Ein Krachen und Knacken, Büschel von Federn und Fell.
Ich lief dicht an der Mauer entlang, die zum Dorfladen führte. Ich drehte mich nur einmal nach Fortyfoot House um, konnte aber hinter den Tannen nur die buckligen, verwinkelten Umrisse des Dachs sehen, das von hier aus wiederum völlig anders wirkte, fast so, als habe es mir den Rücken zugewandt. Ich hatte noch niemals ein Haus gesehen, das eine so düstere und wechselhafte Persönlichkeit besaß. Es kam nie zur Ruhe. Es war immer in Bewegung und - soweit man das von einem Haus denn behaupten konnte - zu den hässlichsten Dingen fähig. Manche Häuser sind angenehm und bequem und tun ihren Bewohnern nichts. Aber im Fortyfoot House blieb ich ständig am Treppengeländer hängen, ich riss mir die Haut an überstehenden Nägeln auf, ich stieß mir den Kopf an Tür-und Fensterrahmen. Selbst wenn Harry Martin durch einen Unfall ums Leben gekommen sein sollte, war das nur ein Beispiel für die Aggressivität des Hauses.
Ich versuchte mir einzureden, dass uns keine Gefahr drohe und dass Geister nicht gefährlicher seien als Erinnerungen. Aber eine tief sitzende Furcht sagte mir, dass ich mir etwas vormachte - oder dass eine finstere und übellaunige Macht mir etwas vormachte.
Der Dorfladen war gerade im Begriff zu schließen, als ich ankam. Der Ladenbesitzer trug Kisten mit Gurken und neuen Kartoffeln in sein Geschäft und schien nicht besonders erfreut, mich zu sehen. Der Laden war nur schlecht beleuchtet und roch nach Waschpulver und Cheddarkäse. Ich ging zum Weinregal und entschied mich für eine große Flasche Piat D'Or.
»Es geht also mal wieder los«, bemerkte der Besitzer, während er meinen Wein einpackte. Im Licht der Neonröhren glänzte sein mit Pomade zurückgekämmtes graues Haar.
»Bitte?«
»Sie sind doch der junge Mann, der im Fortyfoot House arbeitet, oder?«, fragte er.
»Ja, das stimmt.«
»Das passiert immer, wenn die Leute versuchen, dem Haus beizukommen.«
» Was passiert immer?«
»Unfälle, Pechsträhnen. So wie beim armen alten Harry Martin.«
»Nun, ich muss zugeben, dass es eine gewisse ... Atmosphäre besitzt.«
»Atmosphäre?«, erwiderte er. »Keine zehn Pferde würden mich in das Haus kriegen. Das kann ich Ihnen sagen. Nicht mal hundert Pferde.«