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Ich ging rasch zur Treppe und sah nach unten, wo Liz noch immer auf uns wartete. Sie stand in der Dunkelheit da, womit klar war, dass wir auf diesem Weg nicht den Garten des Jahres 1886 erreichen konnten.

»Wir könnten aus dem Dachfenster klettern«, schlug Pickering vor, ohne allzu begeistert zu klingen.

»Das nützt nichts«, sagte ich ihm. »Von diesem Teil des Dachs aus geht es nirgendwohin. Da geht es nur steil runter bis zur Veranda.«

»Warten Sie«, sagte er und berührte meinen Arm. »Ist das da im Boden nicht eine Klapptür?«

Ich drehte mich um und musste ihm Recht geben. Sie war fast völlig von einem staubigen Laken verdeckt, aber ich konnte ein Scharnier und eine Ecke des nicht richtig sitzenden Rahmens erkennen. Ich trat das Laken zur Seite und sah eine Klapptür, die groß genug für einen erwachsenen Menschen war. Es sah so aus, als habe man sie irgendwann nach der Fertigstellung des Hauses nachträglich in den Boden eingelassen. Handwerklich war es das Werk eines Amateurs, wenn man sie mit den anderen im Haus ausgeführten Arbeiten verglich. Die Nägel und Scharniere waren bereits verrostet.

Mir fiel auf, dass die Riegel, die die Klapptür geschlossen hielten, nicht zurückgezogen waren und sich auf dieser Seite befanden, anstatt auf der anderen, mir abgewandten Seite. Das konnte nur bedeuten, dass verhindert werden sollte, dass jemand heraufkommen konnte.

Jemand. Oder etwas.

Ich kniete nieder und presste mein Ohr gegen die Klapptür. Aus einem der unter mir liegenden Räume konnte ich das Mädchen schreien hören.

»Sind Sie bereit dafür?«, fragte ich den Reverend. Mein Herz raste wie wahnsinnig. »Es könnte sein, dass wir uns in etwas einmischen, obwohl wir das gar nicht sollten. Das ist Ihnen doch bewusst, oder?«

Dennis Pickering schluckte schwer. »Wenn die Unschuldigen um Hilfe rufen, müssen wir etwas unternehmen«, sagte er dann. »Da bedeutet es keinen Unterschied, ob es 1886 oder 1992 ist.«

»Amen«, sagte ich und öffnete die Klapptür.

Während ich in das winterliche Tageslicht spähte, wurde mir plötzlich klar, dass diese Klapptür in mein Schlafzimmer führte ... das jetzt ein Zimmer war, bei dem die Decke nicht abgetrennt worden war. Das war mein Schlafzimmer, bevor man nahezu ein Drittel des Raums abgeteilt hatte. Das

Zimmer war dementsprechend größer und luftiger, und es verfügte über ein zweites Fenster mit Blick auf die Erdbeerbeete. Direkt unter der Klapptür stand ein Stuhl, zu dem ich mich hinunterhangelte, um dann auf den nackten Fußboden hinabzusteigen. Ich rief leise nach Dennis Pickering, damit er mir folgte.

Es war faszinierend, wie mein Schlafzimmer ohne die schräg nach unten verlaufende Decke wirkte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie groß der Teil war, den man abgetrennt hatte. Am zweiten Fenster stand ein einfaches Metallbett, das olivgrün gestrichen war, sich aber in einem heruntergekommenen Zustand befand. Auf dem Metallgestell lagen eine unbequeme Rosshaarmatratze und ein gelbliches Bettlaken, weiter nichts. Ein Tablett aus verfärbtem Kupfer lag unter dem Bett, außerdem eine zusammengelegte Schürze, die mit rostigen Flecken übersät und mit ihren eigenen Schnüren fest zusammengebunden war.

»Sehen Sie doch«, sagte Pickering plötzlich und lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein Kruzifix, das an der Wand vor dem Bett hing. Es war ein großes Kruzifix, mit großem Geschick aus dunkel lackiertem Holz geschnitzt, mit einer Christus-Figur aus Elfenbein und mattiertem Silber. Christus sah mit Augen voller Selbstaufopferung und Schmerz ins Nichts. Was aber so unangenehm an dem Kreuz war, das war die Tatsache, dass es auf dem Kopf hing und an einer verdrehten Kordel aus zerfasertem Hanf und vertrockneten Kastanienblüten befestigt war.

»Was bedeutet das?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht, vielleicht Satansjünger. Oder Anhänger des Antichristen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es könnte sich um irgendeinen Kult handeln, von dem wir noch nie etwas gehört haben. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es viele Randgruppen, die sich mit Schwarzer Magie und Teufelsanbetung beschäftigten-.«

»Hören Sie!«

Wieder waren die Schreie des kleinen Mädchens zu hören.

Es klang danach, als habe man das Kind in den Raum gebracht, der heute das Wohnzimmer war. Die Schreie hörten sich nicht mehr so hysterisch an, dafür elender, als hätte sich das Mädchen in sein Schicksal ergeben, sei aber dennoch todunglücklich.

»Möge Gott uns die Kraft geben, die wir brauchen«, hauchte Dennis Pickering und ging vor mir zur Treppe.

Das Haus hatte sich zwischen 1886 und 1992 kaum verändert. Entlang der Treppe und im Flur war allerdings alles mit dunklem Holz vertäfelt, außerdem waren die Wände oberhalb der Vertäfelung tapeziert. Ein durchdringender Geruch von feuchtem Verputz, gekochtem Fisch und Lavendelbohnerwachs hing im Haus.

Im Flur hingen viel mehr Fotos und Zeichnungen an den Wänden, aber natürlich fehlte »Fortyfoot House, 1888<. Während Pickering und ich uns vorsichtig auf die geöffnete Tür zum Wohnzimmer zubewegten, fiel mein Blick auf seltsame Stahlstiche von mysteriösen Gärten, die von Tieren bevölkert wurden, die die Größe von Wild mit Insektenbeinen und Panzern hatten.

Es gab minutiös gezeichnete Darstellungen von mutierten Tieren und medizinische Darstellungen von schwangeren Frauen, die aus achteckigen Glasbehältern Chloroform einatmeten. Andere Bilder zeigten beunruhigend detaillierte Zeichnungen von Frauen, deren Inneres mit Lampen erhellt und untersucht wurde.

Ich konnte mir nicht jedes Bild ansehen, aber ich hätte mir keine Sammlung vorstellen können, die noch ungeeigneter für ein Waisenhaus gewesen wäre als diese hier. Jedes einzelne von ihnen war bizarr oder Furcht erregend oder schonungslos gynäkologisch. Es gab den Furcht einflößenden Stich mit dem Titel >Soldatenfrau, die ihrem Ehemann in die Schlacht folgt, von einer Kanonenkugel in zwei Hälften gespalten wird und noch im gleichen Moment ein lebendes Kind zur Welt bringt<.

Der Reverend hob eine Hand, um mir zu bedeuten, dass ich stehen bleiben und mich ruhig verhalten solle. Wir waren noch etwa einen Meter von der Wohnzimmertür entfernt und konnten nun ganz genau das atemlose hohe Jammern des Mädchens und das verzerrte Kichern von Brown Jenkin und die monotone Stimme des jungen Mr. Billings hören. Das graue Herbstlicht fiel auf den rotbraun gemusterten Teppich, der von Tausenden von Tritten lederbesohlter Schuhe glänzend geworden war. Irgendwo hinter uns, vielleicht aus der Küche, hörte ich klappernde Geräusche. Jemand sang Two Litlle Girls In Blue.

»Was sollen wir jetzt am besten machen?«, zischte Pickering mir zu. Sein Atem roch nach zu vielen Tassen Tee. So viel zu Liz' Äußerung, Vikare würden üblicherweise Alkohol trinken.

»Ich weiß nicht. Was können wir machen?« In diesem Moment musste ich an das denken, was Liz gesagt hatte: >Du kannst dich nie entscheiden. Gehen - bleiben - gehen -bleiben. David, um Himmels willen, entscheide dich doch endlich einmal.«

Ich überlegte immer noch, wie wir vorgehen sollten, als ich eine schneidende überhebliche Stimme hörte, die mich innehalten ließ. Es war die Stimme einer Frau mit einem Cockney-Akzent, der mit dem heutigen genuschelten Cockney kaum etwas gemein hatte. Ohne jeden Zweifel musste das Kezia Mason sein - Schützling des alten Mr. Billings, Geliebte des jungen Mr. Billings.

»Na, komm schon, du kleines Luder. Der Alte Freund wartet auf dich.«

Wieder schrie das Kind auf, dann sagte der junge Mr. Billings: »Kezia, das war nicht vereinbart. Zwölf, hast du gesagt, mehr nicht. Zwölf würden genügen. Und bei Gott, zwölf waren schon schlimm genug. Aber nicht mehr als zwölf.«

»Wann habe ich etwas von zwölf gesagt, mein Liebster?«

»Du hast von zwölf gesprochen, als wir uns zuerst geeinigt hatten. Jenkin hat ebenfalls zwölf gesagt. Nicht mehr.«