Danny lief an der Mauer entlang, die die Veranda umgab, und sang >The Grand Old Duke of York<.
»Ich habe gestern mit Mom telefoniert, nachdem du ins Bett gegangen warst«, sagte ich.
Danny ruderte weiter mit den Armen und sang: »He had ten thousand men ...«
»Sie sagt, dass sie dich lieb hat. Und dass sie dich vermisst. Sie sagt, dass sie dich bald besuchen wird.«
»And he marched them down again.«
»Danny ...«
Er blieb am Ende der Mauer stehen. Über seinem Kopf drehte sich eine Möwe im Wind und schrie wie ein Kleinkind. Es war bereits warm, und der blaue Himmel war mit kleinen Wolken übersät, die wie Wattebäusche aussahen.
»Sie hat gesagt, dass sie dich lieb hat und dich vermisst.«
Eine einzelne Träne lief über seine Wange. Ich ging auf ihn zu, um ihn in die Arme zu nehmen, doch er wich einen Schritt zurück. Er wollte nicht in die Arme genommen werden.
»Danny, ich weiß, dass das schwer für dich ist.«
Ich hörte mich an wie ein Figur in einer schlechten australischen Seifenoper. Woher sollte ich wissen, wie schwer es für ihn war? Woher sollte ich wissen, was es für einen Siebenjährigen bedeutet, seine Mutter zu verlieren?
Ich wandte mich hilflos ab und sah hinüber zum Fortyfoot House - zu der Seite des Fortyfoot House, die zum Garten und zur See wies. Da der Garten so abrupt abfiel, wirkten die Mauern unnatürlich hoch. Sie waren mit Ziegelsteinen verkleidet, die so dunkelrot schimmerten, dass sie fast die Farbe von Kastanien hatten. Das riesige missgestaltete Dach war mit moosbewachsenen braunen Ziegeln bedeckt. Ursprünglich waren alle Fensterrahmen aus Eiche gewesen, jedenfalls hatte Mrs. Tarrant das gesagt. In den zwanziger Jahren hatte man sie durch glänzende Metallrahmen ersetzt, die dann schwarz gestrichen worden waren. Eine der ersten Entscheidungen, die ich für das Fortyfoot House getroffen hatte, lautete, alle Metallrahmen wieder weiß zu streichen.
Die Schornsteine hatten alle noch ihre ursprüngliche Höhe und waren so entworfen, dass sie Kohlenfeuer heiß und heftig brennen ließen. Auch wenn jetzt fast subtropisches Klima herrschte, konnte ich mir vorstellen, dass die Winter in Bonchurch äußerst unangenehm werden konnten.
Irgendwann einmal musste die gesamte Rückseite des Hauses mit Kletterpflanzen überzogen gewesen sein, doch waren sie vor langer Zeit verkümmert und abgefallen. Zurückgeblieben waren nur ein paar trockene Ranken, die sich im Mauerwerk verfangen hatten.
Etwas an den Proportionen des Fortyfoot House irritierte mich. Aus irgendeinem Grund schienen die Winkel nicht zu passen. Das Dach wirkte viel zu groß, und es sah so aus, als falle ein Ende viel zu steil ab. Ich ging ein paar Schritte zur Seite, und die Winkel veränderten sich, wollten aber noch immer nicht so richtig zusammenpassen. Fortyfoot House war eines der abnormsten Gebäude, denen ich jemals begegnet war. Ganz egal, aus welcher Richtung man es betrachtete, immer erschien es unangenehm, hässlich und unausgewogen.
Dieses Unangenehme war so allgegenwärtig, dass sich mir fast der Verdacht aufdrängte, der Architekt habe es mit Absicht so entworfen. Von jeder Seite sah es so aus, als bestehe es nur aus einer Fassade, ohne jegliche Tiefe. Mich überkam das Gefühl, dass sich hinter den Wänden, die ich mit meinen eigenen Augen sehen konnte, nichts befand, abgesehen von einem vergessenen, leeren Garten. Es war, als existiere Fortyfoot House nicht wirklich.
Danny wollte nicht an meiner Hand gehen und sprang von der Mauer. Dann trottete er mürrisch vor mir her, vorbei an den blütenlosen Rosensträuchern, und ich folgte. Mir war so schlecht, als hätte ich einen Kater. Wie konnten Janie und ich ihm so ein Elend bereiten? Manchmal hatte ich das Gefühl, es wäre besser gewesen, ihn gar nicht erst zu zeugen. Es war so mies wie die Zucht von Jagdvögeln, nur um sie abzuschießen.
»Ich glaube, auf dem Dachboden ist eine Ratte«, sagte ich zu ihm, während wir auf dem Kiesweg am Strand weitergingen.
Er sagte nichts.
»Wenn wir die Taschenlampe haben, gehen wir nach oben und suchen nach ihr, ja?«
Er blieb stehen, drehte sich um und sah mich finster an. »Ratten können beißen.«
»Ja, sicher. Aber wenn man eine dicke Hose und stabile Handschuhe trägt, kann nicht viel passieren. Außerdem haben sie meistens mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Ich habe mal welche in der Kanalisation gesehen.«
»Ich könnte meine Wasserpistole mitnehmen«, schlug Danny vor.
Ich nahm seine Hand. »Ja, das wäre nicht schlecht«, sagte ich. »Vielleicht kannst du sie mit roter Tinte füllen, so wie in den Comics. Das sieht dann wie Blut aus, wenn du sie triffst. Und wenn wir sie wieder sehen, wissen wir, mit welcher Ratte wir es zu tun haben.«
Danny gefiel diese Idee. Er begleitete mich bis zur Vorderseite des Hauses und begutachtete zusammen mit mir ernsthaft die Rhododendronbüsche. Den Zustand des Dachs kommentierte er mit einigen fachmännischen Lauten. Ich liebte den Jungen.
Er begann, von der Schule zu erzählen und von Button Moon im Fernsehen, und dass er beschlossen habe, bei den Comics auf Beano umzusteigen, weil der jetzt erwachsener war. Er fragte mich, ob es möglich sei, seinen Teddy so hoch zu werfen, dass der in eine Umlaufbahn um die Erde einschwenkte. Wenn er ihn so richtig schnell wirbeln und dann loslassen würde? Er hatte Angst gehabt, es zu versuchen, weil es sein konnte, dass er seinen Teddy für alle Zeit verlieren würde. Seine Mom hatte ihm den Teddy geschenkt, und er wäre am Boden zerstört gewesen, wenn er ihn verloren hätte.
Wir setzten uns auf die weiß lackierte gusseiserne Gartenbank, um über die Gärten in Richtung See zu blicken. Das Gras und das Unkraut waren kniehoch gewuchert. Der Wind wehte uns warm ins Gesicht und zerzauste unser Haar.
»Manchmal können Leute einfach nicht zusammenleben«, sagte ich ihm. »Sie lieben sich, aber sie können nicht zusammen sein.«
»Das ist blöd«, sagte Danny.
»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Das ist es.«
Danny sang leise und ließ die Beine baumeln, und ich blickte beiläufig und neugierig hinüber zum Fortyfoot House. Sogar von hier aus schienen die Winkel des Dachs ungewöhnlich. Ich konnte das Dachfenster meines Zimmers sehen, das nach Süden hin lag, und die Ziegel zu beiden Seiten. Das Sonderbare daran war aber, dass die westliche Wand entgegen meinen Erwartungen völlig vertikal verlief, bis hinauf zur Dachkante, obwohl die Decke in meinem Zimmer auf dieser Seite auch abfiel.
Mit anderen Worten: Es gab einen abgeteilten Raum, der wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide zwischen meiner geneigten Decke und der vertikalen Außenwand des Hauses lag.
Was diesen Gedanken an einen abgeteilten Raum noch verwirrender machte, war die Tatsache, dass ich unter dem weißen Verputz ganz schwach einen rechteckigen Umriß erkennen konnte, wenn ich meine Augen gegen die Sonne abschirmte. So als habe sich dort einmal ein Fenster befunden, das vor sehr langer Zeit zugemauert worden war. Irgendwann einmal musste mein Zimmer eine gerade Wand nach Westen hin gehabt haben - und ein Fenster, das den Ausblick auf die hohen Fichten ermöglicht hatte, die sich hinter den Erdbeerbeeten erhoben.
Ich konnte mir keinen vernünftigen Grund vorstellen, warum man dieses Fenster zugemauert und die Decke in meinem Zimmer so geneigt hatte, als würde dort das Dach verlaufen. Vielleicht wegen Trockenfäule oder Feuchtigkeit oder wegen eines Baufehlers, der sich auf die Konstruktion auswirkte. Aber ein Fenster zuzumauern, das schien mir nicht der richtige Weg, um solche Probleme zu lösen.
Ich sah das Dach so lange gedankenverloren an, bis Danny aufhörte zu singen und mich fragte: »Was ist los?«
»Nichts«, antwortete ich.
Er blickte ebenfalls hinauf zum Dach. »Da oben war mal ein Fenster«, erklärte er überzeugt.
»Stimmt. Man hat es zugemauert.«
»Warum?«
»Das habe ich auch gerade überlegt.«
»Vielleicht wollten sie nicht, dass jemand rauskommen konnte.«