Ich sah, dass Brown Jenkins Krallen sich durch das splitternde, berstende Holz bohrten. Er ging fast selbstmörderisch daran, uns einzuholen. Ich wusste, dass er uns noch schlimmer behandeln würde als Reverend Pickering. Er würde uns gnadenlos in Stücke reißen.
»Versuch es doch bitte!«, sagte ich zu dem kleinen Mädchen, aber es reagierte nicht. Viel länger würde ich es nicht mehr halten können. Ich dachte an Danny, Janie und auch an Liz. Der unwürdige und feige Gedanke kam mir in den Sinn, dass ich das Kind würde zurücklassen müssen, um wenigstens mein eigenes Leben zu retten.
Immerhin: Was hatte Dennis Pickering noch gleich gesagt? >Wenn wir es mit ins Jahr 1992 nehmen, wäre es dort über hundert Jahre alt. Vielleicht bringen wir es im Grunde ebenso um, wie Kezia Mason es macht! Vielleicht sogar auf noch grausamere Weise !<
Ein Teil der Tür wurde herausgeschlagen, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie Brown Jenkin aus der Dunkelheit des
Korridors zu mir herüberblickte. Die Augen wie Pfeilspitzen, die Zähne wie zerbrochene Milchflaschen. Seine Klaue schob sich durch das Loch in der Tür und begann, nach dem Griff zu suchen. »Mach schon«, schrie ich das kleine Mädchen an. »Um Himmels willen, mach endlich!«
In dem Augenblick geschah ein Wunder. In der Klapptür über mir tauchte Liz' Gesicht auf. »David?«, fragte sie. »Was ist los? Ich habe dich schreien gehört.«
»Hilf ihr rauf«, sagte ich, während Brown Jenkin wie wild an dem Türgriff riss.
»Was?«
»Sie kann nicht raufklettern, sie hat die Nerven verloren! Bitte, zieh sie rauf!«
Liz schob sich vor und bekam die Handgelenke des Mädchens zu fassen. »Na komm«, sagte sie aufmunternd. »Du kannst das.«
»Liz!«, brüllte ich sie an. »Beeil dich doch!«
»Ich tue, was ich kann«, schrie sie zurück. »Ich bin nicht Arnold Schwarzenegger!«
Wie ein Sack Reis ließ sich das Mädchen von Liz hochziehen, während ich Liz die Arbeit ein wenig erleichterte, indem ich das Kind nach oben hob, um sein Gewicht zu verringern. Einen Moment lang befürchtete ich, Liz könnte es nicht schaffen, immerhin war sie selbst nicht viel größer und schwerer als das Kind. Aber dann ließ sie sich nach hinten fallen und zog das Mädchen nach oben, das sich zwar an der Klapptür die Knöchel abschürfte, aber in Sicherheit und am Leben war.
»Bastard - cunt - ich - töte — dead - you - now!«, kreischte Brown Jenkin.
Ich sprang hoch und bekam den Rahmen zu fassen. Einige Sekunden lang schaukelte ich hin und her und fühlte mich zu alt und zu ungeübt, um mich nach oben zu ziehen. Als ich gerade meine Ellbogen auf dem Rahmen aufstützen konnte, gab die Tür mit einem grässlichen Geräusch nach. Brown Jenkin stürmte in das Zimmer und schlug mit seinen Klauen nach mir. Ich hatte nichts gemerkt, aber als ich nach unten sah, bemerkte ich, dass seine Klauen sich seitlich durch meinen braunen Doc-Marten's-Stiefel gebohrt hatten und mein Blut auf den Stuhl und auf Brown Jenkin tropfte.
Ich trat um mich, während Brown Jenkin auf den Stuhl sprang und versuchte, meine Beine aufzureißen. Wieder trat ich um mich, und diesmal verlor er das Gleichgewicht, um mit einem lauten Knall auf den Speicherboden zu stürzen.
»Je tué you bastard, have no Zweifel!«
In der Zwischenzeit schaffte ich es, ein Knie auf den Speicherboden zu bekommen, und hatte endlich genug Halt, um mich seitlich wegrollen zu lassen. Sofort sprang ich auf und ließ die Klapptür zufallen, verriegelte sie, ohne noch einen Blick in das Zimmer darunter zu werfen.
Im gleichen Moment war der Speicher in Finsternis getaucht. Ich kniete noch immer neben der Klapptür, hatte aber bereits wahrgenommen, dass der Dachboden wieder mit allem Gerümpel voll gestellt war, das ich zuvor schon gesehen hatte. Vielleicht wurde die Tür ins Jahr 1886 nur geöffnet, wenn die Riegel der Klapptür zurückgezogen wurden, vielleicht auch erst, wenn man die Klapptür anhob. Was immer es auslösen mochte ... ich wollte es gar nicht wissen. Ein Besuch in der Welt von Brown Jenkin und Kezia Mason und Mr. Billings war mehr als genug gewesen.
Erschöpft stand ich auf, atmete einmal tief durch und schleppte mich dann zur Treppe. Zum Glück war es nicht völlig dunkel. Liz hatte die Tür zum Speicher aufgesperrt, doch nach dem hellen Tageslicht des Jahres 1886 fiel es mir schwer, mich an das schwache Licht zu gewöhnen. Ich trat hinaus auf den Treppenabsatz und schloss die Speichertür hinter mir. Liz stand dort und wartete auf mich. Sie hielt die Hand des kleinen Mädchens, während Danny ein Stück entfernt stand.
»Und?«, sagte Liz zitternd.
»Und was?«
»Geht es dir gut? Bist du verletzt?« »Nein, ich hin in Ordnung. Ach so, mein Fuß hat etwas abbekommen, aber das ist alles. Gut, dass ich Doc Marten's trage.«
»Wo ist der Vikar?«
»Bitte?«
»Der Vikar, Mr. Twittering oder wie er heißt.«
»Oh ... Pickering. Dennis Pickering.«
»Na gut, dann eben Dennis Pickering. Wo ist er? Und was war das für ein Ding da unten? Dieses schreckliche kreischende Ding? War das Brown Jenkin?«
»Ja, das war Brown Jenkin. Er hat sich über mich geärgert, weiter nichts.«
»Jesus, wenn er da nur verärgert war, dann möchte ich ihn aber nicht erleben, wenn er wirklich sauer ist.«
»Es ist schon okay, ehrlich. Er ist wie ein Wachhund, ein wenig wild.«
»Du zitterst.«
»Nein, nein, es geht mir gut.«
»Also, wo ist Reverend Pickering?«
»Ihm geht's gut. Er...«, begann ich, bemerkte dann aber, wie durchdringend Danny mich ansah und wie aufmerksam er zuhörte. Wenn ich ihm erzählt hätte, was wirklich geschehen war, dann wäre er für den Rest seines Lebens wahrscheinlich von Albträumen verfolgt worden. So wie ich auch. Wie könnte ich jemals diesen unfassbaren Anblick vergessen?
»... er wollte noch bleiben«, erklärte ich. »Er kann gut mit Kindern umgehen, weißt du?«
»Und wie lange wird er bleiben?«
»Ich ... ähm ... ich erzähle dir das gleich, wir sollten uns erst mal um die Kinder kümmern.«
»David«, fragte Liz. »War das wirklich Tageslicht?«
»Ja, das war Tageslicht. Und es war wirklich Herbst. Und soweit ich das sagen kann, war es wirklich das Jahr 1886. Es ist kein Trick, Liz. Man kann vielleicht unheimliche Geräusche verursachen, aber man kann weder die Tageszeit noch die Jahreszeit verändern.«
Sie sah nervös zur Speichertür. »Kann irgendwas von da nach hier kommen?«
»Ich weiß es nicht. Ich verstehe es ja nicht mal.«
Ich verschloss die Tür und schob den Riegel vor. Wahrscheinlich würde sich Brown Jenkin nicht davon aufhalten lassen, wenn er durch diese Tür wollte. Aber wenigstens würde uns der Lärm vorwarnen.
Ich kniete neben dem Mädchen nieder. Sein Gesicht war sehr bedrückt und seine Augen hatten die blasse Farbe von Achat. Dennis Pickering hatte sich geirrt. Die Reise vom Jahr 1886 ins Jahr 1992 hatte ihr nicht geschadet, jedenfalls konnte ich davon nichts feststellen. Aber es war schon ein außergewöhnliches Gefühl, mir vorzustellen, dass dieser Mensch eigentlich über achtzig Jahre älter war als ich. War das ein Werk Gottes oder des Teufels? Oder war es etwas völlig anderes?
»Wie heißt du?«, fragte ich, bekam aber keine Antwort.
»Du kannst mir doch bestimmt sagen, wie du heißt.«
Noch immer keine Reaktion. Danny kam näher und betrachtete den Besucher. »Woher kommt sie?«, fragte er. »Sie sieht eigenartig aus, so wie Sweet Emmeline.«
»Ich glaube, sie ist eine Freundin von Sweet Emmeline«, antwortete ich, dann fragte ich das Mädchen: »Kennst du Sweet Emmeline?«
Das Mädchen nickte. Na, wenigstens ein kleiner Fortschritt hatte sich eingestellt.
»Was ist mit Sweet Emmeline passiert?«, fragte ich.
»Brown Jenkin«, kam eine geflüsterte Antwort, gefolgt von etwas, das ich nicht verstehen konnte.