Liz stand auf. »Ich lasse ihnen ein Bad einlaufen. Charity kann eine von meinen Blusen als Nachthemd nehmen.«
Danny kam um den Küchentisch herum und gab mir einen Kuss. »Gute Nacht, Zacko McWhacko«, sagte ich zu ihm. Normalerweise hätte ich gelächelt, aber ich war nicht in der Stimmung dazu. Dennis Pickering war ermordet worden, und ich hatte Charity nur um Haaresbreite retten können. Und mir selbst hatte eine Kreatur im Nacken gesessen, die abscheulicher war als jeder Albtraum.
Ich saß mit verkrampften Muskeln am Küchentisch und wusste einfach nicht, was ich machen sollte.
13. Die Erscheinung
Ich klebte gerade das größte Pflaster, das ich hatte finden können, auf meinen Fuß, als Liz ins Badezimmer kam. Sie trug ein Nachthemd von Marks & Spencer mit Minnie Mouse auf der Vorderseite.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte sie.
Ich zog das Pflaster noch einmal ab, um ihr die Verletzung zu zeigen. Zwei von Brown Jenkins klauenartigen Fingernägeln hatten sich wie Kreissägen durch meinen Stiefel gebohrt und mir zwei Schnittwunden zugefügt, die knapp einen Zentimeter lang waren. Die Wunden brannten, und ich hatte last eine Stunde benötigt, um die Blutung zu stoppen.
»Du solltest dir eine Tetanusspritze geben lassen«, sagte Liz. »Wenn Brown Jenkin so dreckig ist, wie du gesagt hast, dann könnte sich das entzünden.«
»Ich sehe es mir morgen früh an«, versprach ich.
Sie zog ihr Nachthemd aus und beugte sich über die Badewanne.
»Das kocht ja fast«, sagte sie. »Du musst eine Haut aus Leder haben.«
»Die Japaner baden immer in kochend heißem Wasser.«
»Ja, und sie essen auch rohen Tintenfisch. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich das auch machen muss.«
Sie ließ kaltes Wasser nachlaufen, dann stieg sie in die Wanne.
»Schlafen die Kinder?«, fragte ich sie.
»Wie tot. Die arme Charity ist sofort eingeschlafen, als ihr Kopf das Kissen berührte.«
»Ich wünschte, ich wüsste, was ich mit ihr machen soll.«
Liz seifte sich Schultern und Nacken ein. »Ich weiß nicht, warum du sie überhaupt erst mitgebracht hast. Sie gehört doch gar nicht hierher.«
»Brown Jenkin wollte sie mit zum Picknick nehmen, darum habe ich sie mitgebracht.«
»David, du kannst doch nicht in Raum und Zeit eingreifen. Du kannst nicht Gott spielen. Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast und ob du es überhaupt gemacht hast, aber du hast ein Mädchen aus der viktorianischen Zeit ins Jahr 1992 gebracht. Wie soll Charity damit zurechtkommen? Im Moment geht es ihr gut, aber sie hat noch keinen Fernseher gesehen. Und was glaubst du, was sie denken wird, wenn ein Jumbojet übers Haus fliegt?«
Ich stand auf und humpelte zum Waschbecken. Im beschlagenen Spiegel sah ich nicht ganz so müde aus, wie ich mich fühlte. Mit dem Finger malte ich meinem Spiegelbild eine Brille auf das Glas.
»Wie lange wird Reverend Pickering dort bleiben?«
Zuerst antwortete ich nicht, sondern starrte weiter mein Spiegelbild an, während ich dem Plätschern des Badewassers lauschte.
»Ich habe gelogen«, räumte ich schließlich ein. »Dennis Pickering ist tot.«
»Was? David! David, sieh mich an! Was soll das heißen? Er ist tot?«
»Es heißt genau das. Er ist tot. Brown Jenkin hat ihn umgebracht. Er hat ihn regelrecht aufgeschlitzt, es war entsetzlich.«
»Oh mein Gott, David! Das sind ja schon drei Tote!«
»Ich habe immer wieder versucht, mir einzureden, dass Harry Martin und Doris Kemble durch einen Unfall ums Leben gekommen sind. Aber ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Brown Jenkin Dennis Pickering getötet hat. Und ich glaube, dass er auch Harry Martin und Doris Kemble ermordet hat. Harrys Gesicht, das ihm vom Kopf gerissen wurde ... Das waren keine Haken. Doris Kemble, die aufgeschlitzt war wie eine Weihnachtsgans. Sie ist nicht einfach von einem Felsen gestürzt. Und jetzt Reverend Pickering ... Gott stehe ihm bei.«
»Rufst du die Polizei an?«
Ich drehte mich um zu ihr. »Warum? Was soll ich denn erzählen? Der Vikar ist vor über hundert Jahren ermordet worden!«
»Dann werde ich es ihnen erzählen.«
»Ach ja? Und dann fragen sie dich, wo er denn ermordet wurde.«
»Und wo wurde er ermordet?«
»Im Wohnzimmer. Danach fragen sie dich, wer ihn ermordet hat. Und du sagst, dass es ein Rattending war. Und dann fragen sie, wann er ermordet wurde. Und dann erklärst du ihnen, dass es 1886 geschehen ist. Ach, übrigens: Wir haben auch ein Waisenkind aus dem Jahr 1886 mitgebracht, das noch nie ein Flugzeug gesehen hat und das nicht weiß, wer die Teenage Mutant Ninja Turtles sind.«
Liz seifte langsam ihre Brüste ein. Sie hielt inne und sah mich wortlos an.
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Aber wenn ich schon nicht glauben kann, was passiert ist, wie sollen wir dann die Polizei davon überzeugen? Wir können keinen einzigen Blutfleck auf dem Teppich vorweisen, von der Leiche ganz zu schweigen.«
»Auch nicht, wenn wir noch mal durch die Klapptür hinuntersteigen? «
»Oh, nein!«, sagte ich entschieden. »Durch diese Klapptür werden wir niemals wieder steigen. Die ist zu und bleibt zu.«
»Aber vielleicht könnten wir den Leichnam holen. Sic können ihn doch noch nicht beerdigt haben. Dann können wir beweisen, dass er tot ist. Und dass er ermordet wurde. Und dass wir es nicht waren.«
»Nein, wir gehen nicht wieder durch diese Klapptür. Ende der Diskussion.«
Viel mehr gab es nicht zu sagen. Das Erlebnis hatte mich endgültig davon überzeugt, dass wir Fortyfoot House schon längst hätten verlassen müssen. Was immer hier geschah, es entzog sich meiner Kontrolle, und es ging mich auch nichts an, auch wenn ein Vikar, ein Rattenfänger und eine Cafebesitzerin tatsächlich ermordet worden waren. Und auch wenn Charity und die anderen Waisenkinder im Fortyfoot House talsächlich in Lebensgefahr waren.
Ich zog meine Pyjamahose an und öffnete leise die Schlafzimmertür. Aus Dannys Zimmer waren Stimmen zu hören -er und Charity unterhielten sich. Ich schlich mich durch den Korridor und drückte mein Ohr an die Tür.
»... in Whitechapel, als ich noch ganz klein war. Dann hat mich Mrs. Leyton gefunden und zu Dr. Barnardo gebracht. Der hat mich dann hierher geschickt.«
»Keine ... Eltern?«, hörte ich Danny fragen.
»Ich hab sie nie gekannt. Manchmal meine ich, dass ich mich daran erinnern kann, wie meine Mutter für mich ein Lied singt. Und ich kann ihre schwarzen Stiefel sehen. Aber dann kann ich sie wieder nicht hören und auch nicht sehen. Ich glaube, dass ich das nur träume.«
»Musst du wieder zurückgehen?«
»Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht, was los ist. Ich dachte, ich wäre immer noch hier. Aber ich bin nicht mehr hier. Ich meine, es ist dasselbe Haus, aber meine Freunde sind nicht da, und alles ist irgendwie anders.«
Ich hörte den beiden noch eine Weile zu und stellte erstaunt fest, wie schnell sie auf Spiele und Spielzeug zu sprechen kamen. Danny versuchte, ihr zu erklären, was ein Transformer ist. »Das ist ein Roboter, nur dass er ein Raumschiff ist.«
»Was ist ein roh Botter?«
»Das ist ein Mann aus Metall. Und wenn du klick-klick-klick machst, dann verwandelt er sich in einen intergalaktischen Sternenkreuzer.«
»Einen was?«, kicherte Charity. Als ich sie dann richtig lachen hörte, wusste ich, dass es richtig war, sie zu retten. Außerdem war ich der festen Überzeugung, dass ich sie um jeden Preis hier behalten und beschützen musste.