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Die Wände mit Samt bespannt, so schwarz, wie Sünde und so fein, hörte ich mich im Geiste sagen. Und kleine Zwerge kriechen raus ...

Ich zog die Schlafzimmertür auf und blickte in den Korridor, in dem es noch viel dunkler war. Ich wartete und lauschte, bis meine Ohren vor Anstrengung schmerzten.

In diesem Moment schälten sich aus der Dunkelheit erst eine kleine weiße Gestalt und dann weitere. Ich war so in Panik, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich schaffte es nicht mal, mein Stemmeisen zu heben. Die Gestalten kamen immer näher, verursachten aber fast keine Geräusche.

Zwerge, die aus dem Schrank entkommen waren, Geister, die ihrem Grab entstiegen waren. Oder ...

15. Die Wahrnung

Die kleinen Gestalten kamen mir immer näher, und im fahlen Schein aus dem Schlafzimmer konnte ich erkennen, dass es sich um Kinder handelte, die lange weiße Nachthemden trugen. Ihre Augen waren von Erschöpfung und Unterernährung gezeichnet, ihre Haare waren zerzaust, aber sie waren weder Zwerge noch Geister, sondern einfach nur Kinder - zwei Mädchen und ein Junge.

»Wer sind Sie?«, fragte eines der Mädchen mit dem gleichen Akzent wie Kezia Mason. Es war recht hübsch, aber so dünn, dass es schmerzte, das Kind anzusehen. »Ich habe Sie hier noch nicht gesehen. Weiß der Leiter, dass Sie hier sind?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich möchte auch nicht, dass er es weiß.«

»Woher kommen Sie?«, wollte der kleine Junge wissen.

»Brighton.«

»Meine Mama ist mal mit mir im Zug nach Brighton gefahren.«

»Du hast gar keine Mama«, warf das andere Mädchen ein.

»Hab ich wohl. Sie ist mit mir mal nach Brighton gefahren. Dann bekam sie noch ein Kind und ist gestorben.« »Pscht!«, machte ich. »Wir wollen doch niemanden aufwecken, nicht wahr?«

»Was machen Sie dann hier?«, fragte das erste Mädchen. »Sie sind doch kein Skinner, oder? Brown Jenkin mag keine Skinner.«

»Was ist ein Skinner?«, erwiderte ich.

»Sie wissen schon. Einer von den Ärzten oder Reverends, vor denen man sich ausziehen muss, damit sie einen angucken können.«

»Nein, nein, ich bin kein Skinner. Ich suche nur einen Freund.«

»Sie müssen aufpassen, damit Brown Jenkin Sie nicht erwischt«, warnte mich das zweite Mädchen.

»Ich kenne Brown Jenkin«, erklärte ich ihr. »Ich kenne auch Kezia Mason.«

»Wenn Sie Ihren Freund gefunden haben, werden Sie dann wieder fortgehen?«, wollte der kleine Junge wissen.

»Oh, ja, ich werde mich direkt wieder auf den Weg machen.«

»Würden Sie uns mitnehmen?«

»Euch mitnehmen? Euch alle? Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht, dass das geht. Warum eigentlich?«

»Weil viele von uns sterben. Darum. Mr. Billings guckt dich an und sagt, dass du krank bist und dass du behandelt werden musst. Dann nimmt dich Brown Jenkin mit zum Picknick, und danach sieht dich niemand wieder, bevor du begraben wirst.«

»Aber wir sind nicht krank«, erklärte das erste kleine Mädchen. »Mr. Billings gibt uns nicht viel Essen, immer nur Brot und Reste. Darum haben wir alle Hunger. Aber wir sind nicht krank. Nur Billy ist krank. Er hat Keuchhusten. Er hat immer Keuchhusten.«

»Wie viele Kinder sind noch hier?«, fragte ich ihn.

»Einunddreißig, aber Charity fehlt. Niemand weiß, was mit ¿Ar passiert ist.«

Ich wusste natürlich, wo Charity war, sagte aber nichts davon. Ich war nicht hergekommen, um all diese East End-Gören aus Mr. Billings' Waisenhaus zu holen. Ich hatte weder Zeit noch die selbstlose Opferbereitschaft, das zu tun. Was als Versuch begonnen hatte, mehr über die Vorgänge in Fortyfoot House zu erfahren, entwickelte nun alle Kennzeichen der Herberge zur sechsten Glückseligkeit. Wenn ich nicht aufpasste, hätte ich bald einen Treck von Waisenkindern hinter mir und würde durch das Jahr 1886 ziehen.

Im Augenblick ging es mir nur darum, Pickerings Leichnam unter den Fußboden hervorzuholen und fortzuschaffen.

»Hört mal«, sagte ich zu den drei Kindern. »Ich muss unten etwas Wichtiges erledigen. Wenn ich damit fertig bin, komme ich wieder rauf und spreche mit euch. Wo schlaft ihr?«

Das erste kleine Mädchen deutete auf die nächste Tür im Flur. Das Zimmer, in dem in meiner Zeit nur kaputte Stühle, Kisten und Bücher untergebracht waren.

»Also gut«, flüsterte ich, »ich bin in zwanzig Minuten zurück. Versucht, wach zu bleiben.«

»Das werden wir.« Die drei drehten sich um und begannen, wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, als das erste Mädchen noch mal zu mir zurückkam und wisperte: »Kommen Sie mit.«

Ihre eiskalten und dünnen Finger umschlossen meine Hand, während sie mich zu dem Zimmer führte, in dem Liz geschlafen hatte, bevor sie in mein Zimmer gezogen war. Sehr vorsichtig drückte das Mädchen die Klinke herunter und öffnete leise die Tür.

»Wessen Zimmer ist das?«, fragte ich.

»Pschht«, zischte das Mädchen nur.

Als die Tür weit genug geöffnet war, spürte ich, wie mir eine eisiger Schauder über den Rücken lief. Ein Teil des Zimmers wurde von einem hohen Holzbett dominiert, auf dem drei oder vier Wolldecken lagen. Auf der linken, vom Fenster abgewandten Seite lag Mr. Billings auf dem Rücken, die Augen geschlossen, den Mund weit geöffnet und die

Arme an seinen Körper gelegt. Er schnarchte sehr laut und hörte sich so an, als würde er sich jeden Augenblick verschlucken. Neben ihm lag Kezia Mason, deren rotes Haar wie eine sich ausbreitende Flamme auf dem Kissen verteilt war. Zu meinem Entsetzen hatte sie die Augen geöffnet und starrte zur Decke.

Das Mädchen spürte, wie sich meine Finger versteiften. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Sie ist nicht wach. Sie schläft immer mit offenen Augen.«

»Jesus«, sagte ich. Es war ein erschreckender Anblick, Kezia Mason so starr und mit offenen Augen daliegen zu sehen. Ich wollte fast nicht glauben, dass sie schlief und uns nicht sehen konnte.

Das kleine Mädchen zog die Tür wieder zu.

»Wo ist Brown Jenkin?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht. Bestimmt irgendwo draußen.«

»Draußen?«

»Er schläft nie. Ich sehe ihn nie schlafen. Er rast immer hierhin und dahin. Ich hasse ihn.«

»Wer ist er eigentlich genau? Er sieht mehr nach einer Ratte als nach einem Jungen aus.«

»Ja, aber er ist mehr ein Junge als eine Ratte.«

Das kleine Mädchen ging zurück zum Schlafzimmer und öffnete die Tür. »Übrigens, mein Name ist Molly.«

Ich musste sofort an einen der Grabsteine denken, die ich rund um die Kapelle gesehen hatte. Ein einfacher Stein mit der Inschrift >Molly Bennett, 11 Jahre alt, Zur rechten Hand von Christus<. Ich konnte Molly einfach nicht fragen, ob sie mit Nachnamen möglicherweise Bennett hieß. Die Vorstellung, dass Brown Jenkin dieses kleine Mädchen in Kürze zu einem seiner üblen >Picknicks< mitnehmen würde ... Ich strich über ihr zerzaustes Haar. Sie war völlig real, auch wenn zwischen uns über hundert Jahre lagen. Wenn ich in den letzten Tagen eines gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass die Zeit auf die Realität der menschlichen Existenz keinen Einfluss hatte. Wenn wir einmal da sind, sind wir immer da.

Es war ein seltsamer Gedanke, der mich ein wenig traurig stimmte, aber auch tröstete.

»Ich bin in ein paar Minuten zurück«, sagte ich zu Molly. Dann ging ich die Treppe hinunter und durch den Flur, vorbei an den sonderbaren Aquarellen und Stichen. Ich konnte sie in dem schwachen Lichtschein, der durch das Oberlicht der Haustür fiel, schwach erkennen. Jetzt wirkten sie allerdings noch obszöner und mysteriöser, ein Bildkatalog gynäkologischer Grässlichkeiten. Ich sah verzweifelte Gesichter und entsetzliche Chirurgeninstrumente, sterbende Mütter, die in Stücke geschnitten wurden, um ihre lebenden Kinder zu retten. So schnell ich konnte, lief ich an diesen Bildern vorbei.